Das Laurentiusretabel in Gressenich
Relikte eines spätmittelalterlichen Flügelaltars, Kulturerbe in Stolberg/Rhld.
5 S. 31. Taff. I.-IX.
Werke des 15. Jh.s
Klaus Lieck hat die bemalten Schönseiten der Tafeln beschrieben. Was die Rückseiten (evtl. Hinweise) betrifft bleibt unklar, solange die Tafeln den Rahmen nicht entnommen werden können. Zweifel, dass es sich bei den heute noch erhaltenen, bis auf die offensichtlich ersetzten Werke um solche des 15. Jh.s handelt, bestehen nach der in Augenschein genommenen Beschaffenheit und nach Stil und Motiven der Bildtafeln jedoch nicht. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass eine Fälschung vorgenommen worden wäre, um dieselbe in einer Dorfkirche auszubringen. Das beantwortet zugleich die von Lieck aufgeworfene Frage, wie sich ein Dorf von Besenbindern*a einen solchen Altar hätte leisten können6:
Dekorationsmalerei
Bei den auf der Schönseite ungleich etwa 50 x 70 cm großen, 3 mm starken Tafeln handelt es sich um Kirchenmalerei, um Dekorationsmalerei. Schon an gewisser Flüchtigkeit wird dies erkennbar. So hat der Maler (Frauen waren damals keine gewerblichen Malerinnen) der Passionsszenen bei der Handwaschung (I. Tafel 4) den linken Teil des Siegeszeichen im Nimbus übersehen einzumalen und auch dem linken Schuh des Wasser reichenden Dieners fehlt die Spitze. Zuweilen sind die Farbaufträge nicht homogen und die Ausmalungen schießen flüchtig über das Ziel hinaus, insbesondere der Goldauftrag bei den Nimben. Der Maler der Mariae Verkündung (II. Tafel 8) hat beim Spruchband gespart. Ave Maria [gratia] plena D[omi]us tecu[m] "Gegrüßt seist du Maria voll der Gnade des Herrn"7 heißt es darauf in Textura. Wortabkürzungen sind für die Zeit durchaus üblich, doch das gratia fehlt. Es sollte dem Platzangebot entsprechend im Bogen des flatternden Bandes vorzustellen sein. Doch dann passt die Typographie nicht, die Wortabstände zum gratia wären viel zu groß, und angedeutet, wofür Platz wäre, ist das gratia auch nicht. Ferner wurde an den Fußböden gespart. Die sind im Marienleben stets gleich, ob im Tempel oder in den Häusern von Anna und Maria. Die aus Eiche geschnitzten Figuren im Hauptteil hat Maria Greimer bereits als "derb und handwerklich befangen" beschrieben.8 Dem gotischen Ideal mit schmalen Nasen und hoher Stirn entsprechen sie sicher nicht. In diesem Kontext ganz passend sind die Opfergaben bei der Praesentatio (II. Tafel 11). Hier sind es die zwei Tauben, die nach der biblischen Verordnung für Wöchnerinnen in 3 Mose 12,8 statt des Schafs von den ärmeren Menschen als Opfer dargebracht werden dürfen. Ganz so arm wird Gressenich indes nicht gewesen sein. Die Hll. Katharina und Barbara sind Patroninnen der Bergleute. Auch die hl. Anna ist als solche mit der Anna selbdritt aus dem 15. Jh. in der Gressenicher Kirche vertreten. Zudem konnte im Grunde jedes mittelalterliche Dorf Ortsadelige, Ritter und Rittermäßige aufbieten. Johanna Maria van Winter beschreibt diese als soziale Klasse und hat dafür eine "umfangreiche Gruppe" angenommen.9 Willi Frentz nennt für diese Gruppe in Gressenich nicht nur dort besitzende Niederadelige, wie die Palant und Bongard, sondern auch Ritter und Rittermäßige aus Gressenich, darunter einen Adam von Gressenich, der sechs Knappen als Zeugen für den Verkauf von örtlichen Liegenschaften angibt.10 In dieser Gruppe wird man Stifter annehmen dürfen. Überdies war das Domkapitel nicht arm. Ferner gab es eine Laurentiusbruderschaft, 1451 gegründet, die zahlreiche Zuwendungen erhielt.11 Zwar "betreffend die Armen", im tiefgläubigen Mittelalter aber konnte eine Stiftung zu Ehren Gottes auch ein wohlgefälliges Werk an den Armen sein. Mithin konnte sich Gressenich einen Dekorationsmaler für die Ausschmückung der Kirche leisten.
Provenienz
Der mittelalterliche Altar dürfte zudem nicht in einem Stück in Auftrag gegeben worden sein. Denn er war aus vier ganz unterschiedlichen Werken zusammengesetzt, oder sukzessive, gleichermaßen als Spolie, erweitert worden.
Schnitzaltar
Maria Greimer hat das Stab- und Maßwerk des Schnitzaltars im Gegensatz zu den Figuren als besonders gehaltvoll ausgeführt beschrieben.12 Demnach waren hier bereits verschiedene Könner am Werk. Leider ist eben dieser Teil des Altars nach dem Zweiten Weltkrieg verloren gegangen und in den 1960ern durch eine Aufmalung ersetzt worden. Die Figuren, bis auf die Marienkrönung, überdauerten den Krieg im Schutt der Kirche.13
Bildtafeln
Ferners sind die Bildtafeln unterschiedlicher Stilrichtungen. Bei den Szenen aus dem Marienleben wirkt der weiche, internationale Stil, der gotische goldene Hintergrund, der auch golden durch die Fenster scheint (II. Tafeln 7, 8, 11, 12), indes schon unter franco-flämischem Einfluss mit nach hinten gerückter, seitlich hochgezogener Landschaft (II. Tafeln 9, 10), sowie die für den weichen Stil typische S-Linie in der Abbildung der (nichtheiligen) Frauen (II. Tafeln 7, 11). In den Passionsszenen dagegen ganz die moderneren franco-flämischen Stilelemente mit naturalistisch dargestellter Landschaft, auch hier zu den Seiten aufsteigend, gerne felsig, mit urban verstellter Horizontlinie. Es fallen ein paar Anschlussfehler auf: In den Szenen Kreuzannagelung (I. Tafel 6) und Kreuzigung (I. Tafel 7) unterscheiden sich Vegetation und Stadtbild, das Stadtbild deutlich bei Türmen und Tor, obwohl beide am selben Platz und aus der selben Perspektive dargestellt werden. Das Stadtbild dort stimmt auch nicht mit dem bei der Kreuztragung (I. Tafel 5) gezeigten überein.
Klaus Lieck sieht in den Gressenicher Bildtafeln Parallelen zum Meister der Kölner Ursulalegende (1456).14 Der Kunsthistoriker Frank Günter Zehnder weist darauf hin, dass für die Tafeln der Ursulalegende durchgehend Bretter aus Tannenholz in horizontaler Brettlage benutzt worden sind.15 Die Schäden an den Tafeln in Gressenich offenbaren Tafeln aus Eichenholz, die jeweils aus vier Brettern in vertikaler Brettlage bestehen. Was die der Passionsgeschichte angeht: Dieser Maler malt keine Ohren. Nur bei der Grablegung gibt es von ihm etwas, was einem Ohr so gerade noch nahe kommt. In der Ursulalegende gibt es reichlich Ohren zu sehen. Vorbehaltlich von mir*b noch gar nicht angestellter Vergleichsstudien scheint mir bald eher eine Ähnlichkeit zum Kölner Meister von St. Laurenz (1415-1430) auf: Dieser kann wohl Ohren malen, und er malt sie auf Eichenholz. Er zeigt zur Auferstehung eine Szene, bei der vor allem eine ungewöhnliche Beinstellung am Christus auffällt.16 In Gressenich sehen wir Christus in recht ähnlicher Auferstehungsszene (I. Tafel 9) gleichsam hager und mit einer merkwürdig angespannten Fußhaltung. Mit Ähnlichkeit ist hier gemeint, dass der Meister von St. Laurenz ein Vorbild für den Gressenicher Kirchenmaler gewesen sein könnte. Denn die Auferstehungsszene in Gressenich kann erst nach dem Meister von St. Laurenz, der zudem noch gotisch den goldenen Hintergrund zeigt, entstanden sein. In ihr wird der schlafende Soldat vorne rechts, er mit einer gequält wirkenden Armstellung, mit Godendag*c und Schaller*d abgebildet. Die eiserne Schaller kam zuerst in Frankreich nach 1420 auf, und da sie in Deutschland um 1520 mit Entwicklung der Sturmhaube wieder verschwunden war17, lässt sich die Entstehung der Gressenicher Auferstehungsszene in die Zeit Mitte 15. bis Anfang 16. Jh. datieren. Dann auch die anderen Bildtafeln zur Passionsgeschichte, da es sich bei diesen ganz offensichtlich um den selben Maler handelt. Im Übrigen ist an der Barte zu erkennen, dass eine deutsche Schaller abgebildet ist, und der Godendag ist eine flandrische Stangenwaffe. Auch die Kreuzannagelung am Boden (I. Tafel 6) verrät eine Darstellung aus Mitteleuropa. In der Malerei südlich der Alpen bevorzugte man die Annagelung am aufgerichteten Kreuz. Daher und im Hinblick auf die Rechtsverhältnisse an der Kirche, zumal in Gressenich ja auch in kölnischer Währung bezahlt wurde18, ist Köln als Provenienz zu vermuten.
Der Maler des Marienlebens ist bei allen Bildtafeln ein und derselbe. Nur nicht derselbe der Passionsszenen. Im Marienleben ist der Stil konservativer und der Duktus ein ganz anderer, der Maler kann Ohren und zeigt dies auch (II. Tafel 6, 7, 10). Diese Bilder müssen nicht unbedingt älter sein. Der weiche Stil wurde gegenüber dem moderneren franco-flämischen von der Werkstätten nicht gleich aufgegeben, sondern parallel und mit franco-flämischem Einfluss noch bis in die Mitte des 15. Jh.s beibehalten. Von der Entstehungszeit her könnte es also eine Schnittmenge geben. Im Vergleich der verbauten unterschiedlichen Werke passt das Marienleben allerdings zeitnah zur Ausstattung der neuen Kirche, die 1430 ausgemalt worden ist19. Die Tafeln dürften ursprünglich nicht gerahmt gewesen sein, denn der Maler hat einen braunen Rahmen um das jeweilige Bild aufgemalt.
Denkmalwert
Der dunkelhäutige König
Bei der Anbetung der Könige (II. Tafel 10) fällt der dunkelhäutige König/Magier auf. Der Kunsthistoriker Michel Pastoureau legt dar, dass um die Wende vom 13. zum 14. Jh. ein Wandel weg von der Konnotation des Schlechten bei der Darstellung dunkelhäutiger Menschen eingetreten ist.20 Hatte Caesarius von Heisterbach den Teufel noch als "Äthiopier" gesehen, sollte nun im Zeichen des Weltherrschaftsanspruchs der Kirche auch die Bekehrung dunkelhäutiger Menschen erfolgen.21 Der "in einigen Texten der Karolingerzeit genannte dunkelhäutige Heilige" tritt "in Abbildungen vereinzelt erst ab dem Ende des 14. Jh.s, dann häufiger in der Malerei ab den 1430ern und 1440ern" auf.22 Zuvor war er weiß. Der schwarze König Balthasar ist dabei allerdings zum Exoten mutiert, wie an seinem Fantasie-Banner zu sehen ist, das sich deutlich von beiden, gleichermaßen fantasiehaften Bannern der anderen Könige unterscheidet: Balthasar führt einen roten Mohr auf weißem Feld, Kaspar und Melchior dagegen haben himmlische Banner, nämlich goldene Himmelsfiguren in blauen Feldern, Kaspar goldener Stern und silberner Sichelmond, Melchior sechs (3:2:1) goldene Sterne.23 In Gressenich steht der König Balthasar auch etwas abseits und ist zudem nicht wie etwa bei Hieronymus Bosch um 1496/97 als Schwarzafrikaner24 abgebildet, sondern den Gesichtszügen nach eher als Nordafrikaner oder Araber anzusprechen, und seine Equipage wird denn auch von einem Kamelreiter angeführt. Vielleicht eine Befremdlichkeit des Malers gegenüber der neuen Weltoffenheit, oder ein Black-Facing aus Unkenntnis (die in damaliger Zeit mehr für einen Handwerker als einen Künstler gesprochen hätte)?
Primat der Kirche
Das Marienleben wird vorwiegend aus apokryphen Evangelien und der Legenda aurea erzählt. Zunächst ist da, dass die Bibel zum Marienleben kaum Stoff hergibt und die Legenda aurea im Volk für bare Münze gehalten worden ist. So die Szene Mariae Geburt (II. Tafel 5)25, die leider nur in einer misslungenen Kopie/Restaurierung erhalten ist. Recht gut erhalten ist hingegen die Szene Mariae Vermählung (II. Tafel 7). Sie verknüpft die Legende der Verlobung26 mit der Vermählung. In der Verlobung ist Maria 14 Jahre alt. Sie wird im Tempel unter den herbeigerufenen unverheirateten Männern Israels, demjenigen ausgelobt, dessen mitgeführte Rute am Altar erblüht und auf welche sich der hl. Geist in Form einer Taube niederließe. Dies trifft den alten Josef. Von der Vermählung berichtet die Legende nur, dass Josef sie vorbereitet. Im Bild zugegen sind jüngere Männer, die dünne Ruten vorzeigen. Josef ist, obgleich im Innenraum, in Trippen, im Mittelalter hölzerne Unterschuhe gegen den Straßenschmutz. Im Stall von Bethlehem (II. Tafel 10) trägt er keine. Er kommt also von der Straße, ist herbeigerufen. In der Hand hält er einen Gehstock, ein Altersattribut, und eine Blüte. Insoweit die Legende. Es fehlt die legendäre Geisttaube. Sie wird von einem Prälaten, im Rang erkennbar an der Kopfbedeckung, vertreten, denn er stiftet die Ehe. Man wird geneigt sein anzunehmen, dass solche Szenen von der Kirche als Legitimationsanschein vor dem einfachen Volk beauftragt gewesen sind.
Antijudaismus
In den Passionsszenen wird das Narrativ des schlechten, feindseligen Juden befördert. Die Gesichter werden zu hasserfüllten, fanatischen Fratzen mit spitzen Zähnen, ein Kind wird in der wütenden Menge mitgeschleift (I. Tafel 3), und auch die Schächer blicken irre (I. Tafel 5) und gemein (I. Tafel 6). Das mochte der damaligen Fokussierung auf die Leidensgeschichte dienen, um dieselbe zu erhöhen. Allerdings ist Antijudaismus in der Kirche spätestens seit Augustinus*e nichts neues. Der Jesuit Nikolaus Cusanus – Namensvetter und Landsmann des bekannteren Kardinals – gab aus der Darstellung des Ecce homo ein Vorbild für den bis ins Ende des 20. Jh.s. u.a. in Mausbach geübten Brauch der Klapperjungen.27










