Haro von Laufenberg (2018):

"Reichskristallnacht" 1938 in Eschweiler

Aufklärung einer Straftat

Während der Novemberpogrome 1938 kam es auch in Eschweiler zur Brandstiftung an der jüdischen Synagoge. Bisher war in der Literatur unbestimmt von Tätern aus den Reihen der Nazis die Rede. Kolportiert wurde auch "SA aus Weisweiler und Düren" als Täter. Neuere Recherchen, vom Autor zwischen September 2017 und März 2018 angestellt, verdichten jedoch eine Täterschaft aus Eschweiler und führen erstmals in der Eschweiler Historiographie zur Benennung von Personen und zu Profilen derselben.

Inhalt:

Prolog
Abriss der Judenpogrome im Herbst 1938
Die Eschweiler Ereignisse
Abriss der Ereignisse in Eschweiler (ohne Weisweiler) am 9. und 10. November 1938
Zeitzeugen berichten
Zeitzeugnisse als einzige Quellenlage
Wer waren die Täter?
Eschweiler Nazis, Werdegänge und Charakterisierungen nach schriftlichen und mündlichen Quellen
Nach dem Krieg
Durchstarten und zweite Karrieren
Resümee
Quellen und Literatur, Abkürzungsverzeichnis

Artikel als Datei:

Download PDF (773 KB)

Prolog

Den Sommer des Jahres 1938 über kam es reichsweit zu Gewaltaktionen, Razzien und Verhaftungen, die sich gegen Juden richteten. Insbesondere in der angeschlossenen "Ostmark" kam es zu einem latenten Pogrom, auch unter Beteiligung der Bevölkerung. (Bergmann/Wyrwa 2011, S. 101) Am 26. Oktober verfügte der Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei, Heinrich Himmler, die Abschiebung polnischer Staatsbürger mit jüdischem Hintergrund. Den Legalitätsanschein dieser "Polenaktion" verschaffte eine Verfügung der polnischen Regierung, die Pässe solcher polnischer Staatsbürger, die per Stichtag 1. November 1938 fünf Jahre und länger im Ausland lebten, für ungültig erklärte. Betroffen waren auch Eschweiler Bürger.1

Am 7. November 1938 schoss der 17 Jahre alte Herschel Grynszpan, dessen Familie von der "Polenaktion" betroffen war, in der deutschen Botschaft in Paris mit einem Revolver auf den Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath. Das Tatmotiv Grynspans ist bis heute nicht klar offengelegt. Grynspan selber sprach wohl von einer Affekttat auf die "Polenaktion". Eine Verstrickung vom Raths in die Homosexuellenszene, ob wahr oder unwahr behauptet, könnte dazu geführt haben, dass der ursprünglich geplante Schauprozess gegen Grynspan nicht stattfand und dieser direkt im Konzentrationslager ermordet wurde. Schließlich war vom Rath Nazi, und Homosexualität war ein Tabu in der Nazi-Propaganda, die das Philiströse zu befriedigen suchte. Bereits unmittelbar am 7. November und dann bis zum 13. November kam es infolge dieses Attentats zu weiteren Judenpogromen, die in die Geschehen am 9. und 10. November gipfelten. Organisiert wurde die Gewalt von der Nazi-Partei, zunächst von unten, dann im Hinblick auf die "Reichskristallnacht" von der Führung. Erfinder des "spontanen Volkszorns" war Josef Goebbels, der mit der Bevölkerungsbeteiligung im latenten Pogrom kalkukliert haben könnte. Zudem sollte die Parteibasis, in der es weiterhin auch nach der Ausschaltung der SA als politische Macht in der "Nacht der langen Messer", der von Hitler angeordneten Ermordung der SA-Führung Ende Juni 1934, rumorte, mit einer "Aktion der Tat" zufrieden gestellt und gezügelt werden. (Vgl. z.B. die von Thalmann/Feinermann 1988 gegebene Übersicht.)

Forschungen des Synagogue Memorial Jerusalem gehen von rund 800 ermittelten und schätzungsweise bis zu 1.500 Menschen aus, die bei den Pogromen und in deren Folge ermordet oder in den Selbstmord getrieben wurden. (Schwarz/Lange 2004) Eine zurzeit noch von der Mahnstätte Düsseldorf betriebene Studie zur Ermittlung reichsweiter Erfassungsfälle scheint nach den bekannt gewordenen Zwischenergebnissen in dieselbe Richtung zu tendieren (vgl. Schwerdtfeger 13.6.2018, in: rp-online).2

Die Eschweiler Ereignisse

Am Abend des 9. November 1938 ab 20 Uhr fand im Hotel der Schützenhalle auf der Marienstraße die jährlich wiederkehrende Gedenkfeier zu dem dilettantischen Hitler-Ludendorff-Putsch statt. Es sprachen die "Parteigenossen" Ruland und Jussen, die Kapelle des Elektrowerks spielte Wagner (Westdeutscher Beobachter Nr. 309,14 v. 10.11.38). Die Versammlung sei "gut besucht" gewesen (Westdeutscher Beobachter Nr. ebd.) und dürfte die Antisemiten, die längst nicht nur in der Nazi-Partei versammelt waren3, in Stimmung gebracht haben. Auch im "Braunen Haus" dürfte es hoch her gegangen sein. Mit dem "Braunen Haus" wurde gemeinhin die örtliche Zentrale der Nazi-Partei bezeichnet, in Eschweiler das Haus Dürener Straße Nr. 2 an der Ecke zur Kochsgasse. Im Eschweiler Volksmund indes galt die Gaststätte Zander auf dem Knickertsberg (heute Indestraße) als das wahre "Braune Haus". Dann wurde mit Unterstützung der Polizei randaliert, schikaniert und verhaftet. Am frühen Morgen des 10. November 1938 waren die Straßen, an denen jüdische Geschäfte lagen, mit Scherben aus den zerschlagenen Schaufenstern dieser Geschäfte übersät und die Lokale geplündert. Heymann Goetz, ein jüdischer Händler auf der Grabenstraße, trat den Schergen von Partei und Staat mit dem "Eisernen Kreuz", der Kriegsauszeichnung, die er sich im Ersten Weltkrieg erworben hatte, entgegen und wurde zusammengeschlagen (Briefs 2016, S. 38). Wohlhabendere Juden wie jener Heymann Goetz, der Metzgermeister Leo Stiel, aber auch wie der junge Einzelhändler Paul Levy, der später noch eine Rolle spielen wird, wurden in "Schutzhaft" genommen (vgl. Viehöver 2002, S. 242-243 mwN), also ohne gesetzliche Grundlage und ohne richterliche Überprüfung von der Polizei verhaftet.

Als der bildlich verhaftete Höhepunkt des Pogroms in Eschweiler gilt die Brandstiftung am jüdischen Gotteshaus in der Moltkestraße Abb. 1 gegen 9 Uhr des 10. November. Diese Tat ist zwar beschrieben (Schmidt 2014, S. 114-115), im Gegensatz zur Schändung der Synagoge und der Schikanierung des jüdischen Gemeindevorstehers in Weisweiler durch den dortigen Nazi-Ortsgruppenleiter und Bürgermeister Heinrich Löltgen in Bezug auf die Täter nicht aufgeklärt worden. Vielmehr heißt es nebulös, die Straftat sei von "vier Nazis" begangen worden, kolportiert wird "SA aus Weisweiler und Düren". Das Gotteshaus wurde mit Stroh in Brand gesetzt, es sollen Strohballen gewesen sein. Am Nachmittag soll auf dem Marktplatz eine Strohpuppe "für den Juden" verbrannt worden sein (Schmidt 2010, S. 41), und es ist denkbar, dass beabsichtigt gewesen war, dies in der doch überwiegend katholischen Stadt Eschweiler mit dem katholischen Brauch des "Judasbrennen" zur Osterzeit zu assoziieren.

Zeitzeugen berichten

Die Eschweiler Ereignisse im November 1938 lassen sich aus der Zeitungssammlung in Eschweiler als die einschlägige Sammlung von Eschweiler Quellen zu dieser Zeit nicht oder nicht mehr nachvollziehen. Es erschienen damals zwei Zeitungen in Eschweiler: Die Nazi-Presse mit dem "Westdeutschen Beobachter" war bemüht, den von der Partei organisierten und gelenkten Pogrom als spontane Volkserhebung darzustellen und verzichtete insbesondere nach den ungeplanten und ungewollten Plünderungen (Lepper 1994, II S. 1245 Nr. 1020) auf eine Berichterstattung. Von der katholischen "Eschweiler Zeitung – Bote an der Inde" fehlen die entscheidenden Ausgaben vom November 1938 im Faksimile-Bestand des Eschweiler Geschichtsvereins. Ob sie im Original erhalten sind, lässt sich zurzeit nicht prüfen, weil das Stadtarchiv den Zugang mit Verweis auf eben die möglicherweise unvollständige Faksimile-Sammlung beim Eschweiler Geschichtsverein nicht ermöglicht. Im Zuge der Gleichschaltung dürfte aber auch von der "Eschweiler Zeitung" kein anderes Verhalten als in der Nazi-Presse zu erwarten gewesen sein.

Die Aufklärung ist daher auf Zeitzeugen angewiesen. Dabei haben Rudolf Briefs und Dietrich O.4 im Rahmen des Projekts "Oral History Archiv" wichtige Hinweise für die Ermittlung der Täter gegeben. Rudolf Briefs wurde am 14. März 2018 von mir interviewt, Dietrich O. gemeinsam mit Armin Gille am 30. September 2017. Die Interviews sind in MP3-Dateien aufgezeichnet und von mir verschriftlicht worden.

Rudolf Briefs war Chemielaborant an der Kernforschungsanlage in Jülich. Er wurde am 18. September 1924 in Eschweiler als Sohn der Eheleute Therese Breuer und Peter Franz Briefs geboren. Die Mutter war Vorstandssekretärin in Weisweiler, der Vater Kaufmann, ein Onkel war der international angesehene Sozialtheoretiker und Nationalökonom Götz Briefs, der im Zuge der allgemeinen Talentabwanderung nach dem "Röhmputsch" 1934 als Hochschullehrer in die USA emigrierte.

Dietrich O. ist ein engster Verwandter von Josef Kuiff. Josef Kuiff war seit 1936 in der politichen Führungsebene der Eschweiler Nazis und von 1937 an Ortsgruppenleiter in Eschweiler gewesen. Im Interview zitierte Dietrich O. aus dem schriftlichen Nachlass nach Josef Kuiff und aus dessen Erzählungen an ihn.

Wer waren die Täter?

Reiner Kreuer

"Mit ziemlicher Sicherheit" hat Rudolf Briefs den damaligen SA-Obersturmbannführer Reiner Kreuer aus Eschweiler als Täter und Rädelsführer benannt (Briefs 2018, 0:04:48). Briefs selber war nicht Augenzeuge. Er bezog diese Information aus dem Kreis um seinen Vater, den Kaufmann Peter Franz Briefs, dem alle vier Täter namentlich bekannt gewesen seien. Peter Franz Briefs, selbst konservativ, pflegte in der Nazi-Zeit einen regen Austausch auch mit Sozialdemokraten und Kommunisten, die für gewöhnlich gut informiert waren. Rudolf Briefs erinnert sich an den Namen Reiner Kreuer auch darum, weil Kreuer 1945 von eben jenem Paul Levy, der 1938 in "Schutzhaft" genommen worden war, erkannt und festgenommen wurde, als er sich an der Schuttbeseitigung auf der Uferstraße beteiligte (Briefs 2018, 0:05:00). Paul Levy war als Soldat der US-Army nach Eschweiler zurück gekommen.

Kreuer, erzählt Rudolf Briefs, wurde nach seiner Festnahme nach Aachen überführt und sei dort "gewiss nicht sanft" behandelt worden. Das gibt einen Hinweis, nach eventuell erhalten gebliebenen Akten zu forschen, aus denen sich auch eine schriftliche Quelle zur Täterschaft eröffnen könnte. Warum Rudolf Briefs sein Wissen erst jetzt – rund 80 Jahre nach den Vorgängen in der Pogromnacht – öffentlich macht, erklärt er im Interview: Er sei bisher nicht nach seinen Erlebnissen gefragt worden. Als weiteren Grund gibt er an, dass man ihn "sehr nachdrücklich" vor anhaltenden Vernetzungen in Eschweiler gewarnt habe. Nicht nach seinen Erlebnissen befragt worden ist auch Paul Levy. Er verstarb 2002 in den USA.

Reiner Kreuer wurde am 20. Dezember 1899 in Eschweiler geboren (Standesamt Eschweiler 836/1899). In dem von Wilhem Dostall 1925 herausgegebenen "Adreßbuch für Eschweiler und Umgegend" wird er als Elektriker mit Wohnsitz im 1932 nach Eschweiler eingemeindeten Nothberg verzeichnet. Am 24. Februar 1934, bei Feierlichkeiten im Kölner Gürzenich zum 14. Jahrestag der Gründung der Nazi-Partei, wurde "Sturmbannführer Reiner Kreuer aus Nothberg als einzigem aus dem Stadtbezirk Eschweiler das Ehrenzeichen der alten Garde vom Gauleiter überreicht", er gehörte somit zu "den wenigen Mitgliedern der Partei, die in unserem Bezirke eine Mitgliedsnummer unter 100.000 aufzuweisen haben" (Westdeutscher Beobachter Nr. 57,10 v. 27.2.1934 Abb. 2).

Der Kosten einer Einzelabfrage wegen ist hier darauf verzichtet worden, beim Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde die genaue Mitgliedsnummer Kreuers zu ermitteln. Aus den allgemein veröffentlichten Nummernkreisen lässt sich jedoch erschließen, dass er bis spätestens Ende 1928, also in der von den Nazis sogenannten Kampfzeit, in die Nazi-Partei eingetreten war, und der von ihm in der SA schon 1933 (Westdeutscher Beobachter Nr. 227,9 v. 12.9.33) bekleidete, immerhin mittlere Rang "Sturmbannführer" (im Vergleich mit dem Ranggefüge im damaligen Reichsheer: Major) lässt einen recht frühen Beitritt zur "Bewegung" erahnen. Dem Stadtrat von Eschweiler gehörte er ab März 1933 an (Eschweiler Zeitung Nr. 60,1933 v. 13.3.33), 1935 war "Obersturmbannführer Kreuer dienstältester Parteigenosse unter den Ratsherren" im Eschweiler Stadtrat (Westdeutscher Beobachter Nr. 310,11 v. 12.11.35). Danach wurde er in keiner der Beförderungslisten mehr aufgeführt noch sonstwo mit einem höheren Rang oder einem politischen Amt. Es ist anzunehmen, dass Kreuer, der in Eschweiler blieb, weil er dort 1945 festgenommen wurde, bei der 1942 aufgestellten "Stadtwacht" noch eine Rolle gespielt hat. In der Stadtwacht wurde die SA wieder zur Hilfspolizei, wurde wiederbewaffnet und war für die Bewachung von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern zuständig.

Josef Kuiff

Eine weitere Täterschaft kommt für den Eschweiler NSDAP-Ortsgruppenleiter Josef Kuiff in Betracht. Seine Beteiligung an der Brandstiftung zumindest als "Mitwisser" und dadurch im strafrechtlichen Sinne als Mittäter ist wahrscheinlich: Dietrich O. hat im Interview seinen Verwandten mit den Worten zitiert: "Ich habe dafür gesorgt, dass keiner aus Eschweiler mitmacht, die waren aus Weisweiler und Düren" (Dietrich O. 2017, 0:37:12). Wenn diese Aussage wahr ist, dann wusste Josef Kuiff bereits vom Entschluss zur Tat und er war bei der Brandstiftung selbst zugegen. Andernfalls hätte er weder Vorsorge treffen noch aus eigenem Wissen berichten und schließlich auch nicht überwachen können, dass "keiner aus Eschweiler mitmacht". Ist die Aussage unwahr, kamen die Täter nicht aus Weisweiler und Düren, sondern nächstliegend aus Eschweiler. Was sich hier wie das Paradoxon des Epimenides anhört, löst sich also dahingehend auf, dass die Täter aus Eschweiler kamen und Kuiff beteiligt war. Als Ortsgruppenleiter verfügte er über die Mittel, die Brandstiftung zu verhindern, zumindest dagegen einzuschreiten. Es ist jedoch weder ein Versuch noch eine Tat bekannt, und es wird weder von Kuiff selber noch von Dietrich O. behauptet, dass er eingeschritten wäre. Der "gottgläubige"5 Josef Kuiff (Dietrich O. 2017, 0:37:21) soll sich indes nicht als Judenverfolger verstanden haben, was wiederum ambivalent zu verstehen ist: "Ich hatte einen Klassenkameraden auf dem Gymnasium, [...], der war Jude, und dem habe ich nachts Bescheid gestoßen, er sollte machen, dass er abhaut" (Dietrich O. 2017, 0:37:51). Zudem wird Kuiff wohl nicht nur durch die Einlassung zur Brandstiftung, sondern auch von Zeitzeugen schwer belastet. So ergibt sich aus einem Vernehmungsprotokoll des Amtsgerichts in Eschweiler aus dem Jahr 1955 die Aussage eines städtischen Beamten: "Bei der Judenaktion war der Ortsgruppenleiter Kuiff beteiligt. Das war in Eschweiler bekannt." (Amtsgericht Eschweiler – 5 AR 252-253-253/55, S. 4.)

Josef Kuiff, geboren am 1. Mai 1912 in Eschweiler (Dietrich O. 2017, 0:01:31), mithin 13 Jahre jünger als Kreuer, trat 1928 in die Hitlerjugend ein, im November 1930 wurde er in die NSDAP "überwiesen" (Westdeutscher Beobachter Nr. 60,13 v. 2.3.37). Zugleich wurde er mit Erreichen der Altersgrenze für die Hitlerjugend Mitglied der SA, wo er es bis 1936 zum Sturmführer (Leutnant) und Sturmbann-Adjutanten (Westdeutscher Beobachter Nr. 338,12 v. 7.2.36) bei Reiner Kreuer brachte. Nachdem insbesondere Oskar Sonderkamp Anfang Oktober 1936 aus "gesundheitlichen Gründen" – es waren wohl auch Korruptionsvorwürfe im Spiel – die Leitung der Ortsgruppe Eschweiler-Stadtmitte aufgab (Westdeutscher Beobachter Nr. 285,12 v. 14.10.36), wurden die drei Eschweiler Ortsgruppen unter die Leitung des Kreisamtsleiters Lehmann gestellt (Westdeutscher Beobachter aaO.), und Kuiff wurde dessen Stellvertreter (Westdeutscher Beobachter Nr. 338,12 v. 7.12.36). Im März 1937 wurde er von der SA freigestellt und zum Ortsgruppenleiter Eschweiler-Stadtmitte ernannt (Westdeutscher Beobachter Nr. 60,13 v. 2.3.37. Eschweiler Zeitung Nr. 51,74 v. 2.3.37, Nr. 57,74 v. 9.3.37), behielt indes bis zur Einführung des Ortsgruppenleiters Hans Wolff für Eschweiler-Bergrath Ende Oktober 1938 die "Betreuung" aller Eschweiler Ortsgruppen (Westdeutscher Beobachter Nr. 300,14 v. 1.11.38).

Kuiff, so scheint es, gehörte zur eher brutalen Truppe der Nazis. Dietrich O. zitiert im Interview Kuiffs Mutter, dass es häufig "im Schlafzimmer nach Karbol [Wundmittel der Zeit, HvL] roch, weil er irgendwie mit anderen wieder aneinander gehakt hatte" (Dietrich O. 2017, 0:25:18). 1929 war er wohl wegen aggressiven Auftretens der Schule verwiesen worden (Eschweiler Zeitung Nr. 51,74: "wegen der Zugehörigkeit zur Hitlerjugend"), er schlug sich dann als Praktikant und schließlich als Gesteinshauer auf der Grube Reserve in Nothberg durch. (Westdeutscher Beobachter Nr. 60,13 v. 2.3.37) Kuiff gehörte dem SA-Feldjägerkorps an (vgl. Abb. 3, rechter Kragenspiegel mit preuß. Polizeistern), das als Hilfspolizei6 Jagd auf Andersdenkende und Juden machte, in Eschweiler auch auf Sinti und Roma, aber auch im kleinbürgerlichen Mief wohl als Prügeltruppe auftrat wie bei der Verhaftung des Postinspektors Breuer durch Ortsgruppenleiter Sonderkamp als Replik auf einen Zivilprozess in der "Systemzeit"7 (Eschweiler Zeitung Nr. 71,1933 v. 25.3.33). Ab 1933 wurde Kuiff als "alter Kämpfer"8 protegiert (vgl. für den Gau Köln-Aachen: Westdeutscher Beobachter Nr. 125,10 v. 7.5.34 und speziell für den Landkreis Aachen: Westdeutscher Beobachter Nr. 93,11 v. 3.4.35), und er wurde mit einer Stelle im Eschweiler Arbeitsamt versorgt (Westdeutscher Beobachter Nr. 111,13 v. 23.4.37). Dort war er mit Aufgaben der Arbeitsverwaltung für den Bau des Westwalls betraut (Dietrich O. 2017, 0:20:15). Die Arbeitsämter dürften hierbei insbesondere für die "Vermittlung des Arbeitseinsatzes" von "Grenzgängern" (Pendler insbes. aus den Niederlanden) eventuell auch polnischen "Gesindekräften" (Landarbeitern) in Kasernierung als auch für Zwangsmaßnahmen gegen "Arbeitsscheue" und "Asoziale" zuständig gewesen sein, was den Ambitionen der SA ja sehr entgegen kam. (Die von Thomas Müller bearbeitete Studie der Forschungsstelle "Zwangsarbeit" an der RWTH Aachen geht hierauf näher ein. Vgl. auch Müller 2003.) Zuletzt war Kuiff dort 1939 als Regierungsinspektor tätig (Dietrich O. 2017, 0:05:41).

Tatmotiv

Rudolf Briefs (2018) nennt als Motiv der Brandstifter, "das waren Nazis, die sich hervortun wollten". Tatsächlich dürfte für Kreuer 1938 das Ende der Fahnenstange bereits längst erreicht gewesen sein. Der in Eschweiler nicht unbekannte Lucian Wysocki, der 1933 denselben Rang in der SA wie Kreuer inne hatte, war bereits 1933 an ihm vorbei Chef der SA-Hilfspolizei in Eschweiler gewesen (Westdeutsches Grenzblatt 166/9 v. 13.7.33) und machte später eine zweifelhafte Karriere als SS- und Polizeiführer, als der er an der "Par­ti­sanen­bekämpfung"9 im rückwärtigen Raum der Ostfront beteiligt war (Westdeutscher Beobachter Nr. 273,14 v. 5.10.38. Lilla et al. 2004). Auch der jüngere Kuiff war an Kreuer vorbei zum Ortsgruppenleiter aufgestiegen. Doch dürstete es Kuiff wohl nach weiterer "Bewährung": Mit Kriegsausbruch im September 1939 meldete er sich freiwillig zur berittenen Artillerie.10 Für "Goldfasane", wie die Nazi-Funktionäre ihrer Uniformfarben und -effekten wegen im Volksmund genannt wurden, war dergleichen im Grunde nicht vorgesehen. In Anton "Toni" Delhey jedoch konnte Kuiff einen für die Nazis akzeptablen Stellvertreter präsentieren (Westdeutscher Beobachter Nr. 244,15 v. 5.9.1939). Während des Kriegs soll Kuiff dann wohl um Heldentaten bemüht gewesen sein (Dietrich O. 2017, 0:21:14, 1:16:46), zuletzt bei der Panzer-Division "Feldherrenhalle" (Dietrich O. 2017, 0:12:16), in der vornehmlich SA-Mitglieder versammelt waren.

Nach dem Krieg

Reiner Kreuer war wohl wieder als Elektriker tätig. Ob es nach seiner Verhaftung 1945 zu einer Strafverfolgung gekommen ist, ist nicht bekannt geworden.11 Dass er sich laut Briefs 1945 an der Schuttbeseitigung in Eschweiler beteiligte (Briefs 2018, 0:05:00), deutet auf eine "Sühneleistung" belasteter Nazis hin. Solche Sühneleistungen (insofern auch versus des aus der NS-Propaganda erwachsenen Mythos der "Trümmerfrauen") wurden angeordnet, etliche Nazis meldeten sich aber auch freiwillig dazu, nämlich um durch "tätige Reue" mildere Spruchkammerverfahren bei der Entnazifizierung erhoffen zu können. Kreuer starb am 24. März 1979 in seiner Wohnung in Eschweiler (Standesamt Eschweiler C 214/1979).

Josef Kuiff blieb straffrei. Er kehrte 1950 nach Eschweiler zurück, jedoch nur kurz, verweigerte die Entnazifizierung (Dietrich O. 2017, 0:08:03) und verzog angesichts von Vorwürfen ins Ruhrgebiet (Dietrich O. 2017, 0:08:56), wo auch Lucian Wysocki untergekommen war (Leila 2004), die Familie folgte einige Jahre später (Dietrich O. 2017, 0:40:40). 1956 klagte Kuiff sich wieder in das Beamtenverhältnis im Rang eines Regierungsinspektors bzw. Verwaltungsinspektors ein und erhielt rückwirkend ab 1939 alle Bezüge nachgezahlt (Dietrich O. 2017, 0:09:32). Anfangs wurde er beim Landesarbeitsamt beschäftigt. Es scheint, dass er hier wohl an seine Tätigkeit im Arbeitsamt Eschweiler anknüpfen konnte: an der bayerischen Grenze Werbung von Ungarn-Flüchtlingen für den Bergbau (Dietrich O. 2017, 0:10:55). Angeblich sei er anfangs "teilweise gemobbt" worden, von Vorgesetzten, "Analphabeten, die 1945 angeblich im Widerstand gewesen waren" (Dietrich O. 2017, 0:10:19). Zuletzt war er, offenbar mit Hilfe einer alten Seilschaft, Oberverwaltungsrat im Wehrtechnischen Amt der Bundeswehr (Dietrich O. 2017, 0:40:40). 1998 kehrte er nach Eschweiler zurück, 2002 gratulierte ihm der Eschweiler Geschichtsverein zum Geburtstag (Küpper 2002, S. 4), 2007 verstarb er in Eschweiler wenige Tage vor seinem 95. Geburtstag.

Resümee

Erinnerung ist ein rekonstruktiver Prozess, auf den verschiedene Faktoren, insbesondere nachträgliche Informationen, einwirken und zu Verzerrung oder Verklärung führen können.

Rudolf Briefs zeigte eine Unsicherheit bei der Datierung, ob der Pogrom in Eschweiler vom 8. auf den 9. oder vom 9. auf den 10. November einsetzte, bevor er sich auf letzteres festlegte. Tatsächlich gibt es in der Literatur Darstellungen, die das frühere Datum für die Reichspogromnacht angeben, als auch – und das ist eine interessante Frage – speziell für die Eschweiler Ereignisse. Souverän jedoch nannte Briefs den Namen Reiner Kreuer und konnte glaubhaft machen, warum er sich an diesen Namen so genau erinnerte.

Josef Kuiff war vielleicht nicht an der Legung des Brandsatzes beteiligt. Seine Einlassung lässt bei vernünftiger Betrachtung jedoch keinen anderen Schluss zu, als den, dass er an der Brandstiftung beteiligt gewesen ist.

Schließlich sind die hier sogenannten Täterprofile ausführlich anhand der Quellen dargestellt worden, denn sie untermauern die Glaubhaftigkeit der Aussagen über die Beteiligung von Kreuer und Kuiff und bei letzterem noch durch eine weitere Zeugenaussage.

Mithin ist die Brandstiftung an der Eschweiler Synagoge im Novemberpogrom 1938 zwar nicht restlos aufgeklärt und durch schriftliche Quellen bewiesen. Es bestehen nach den jetzt vorliegenden Informationen jedoch keine Zweifel daran, dass mit Reiner Kreuer und Josef Kuiff zumindest zwei Eschweiler direkt bzw. zumindest indirekt an der Brandstiftung an der jüdischen Synagoge in Eschweiler während des Novemberpogroms 1938 beteiligt gewesen sind.

Quellen und Literatur:

  • Amtsgericht Eschweiler – 5 AR 252-253 – 253/55. Protokoll der mündlichen Verhandlung v. 7.10.1955 in der Entschädigungssache Levy.
  • Bergmann, Werner; Wyrwa, Ulrich (2011): Antisemitismus in Zentraleuropa. Darmstadt: WBG.
  • Birmanns, Martin (1998): Die Aachener Justiz im Zeitalter des Nationalsozialismus. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins, Bd. 101, S. 209—265.
  • Briefs, Rudolf (2016): Vom Schicksal der Juden in Eschweiler und Weisweiler in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Ein Beitrag zum Thema Zeitgeschichte. 3., überarb. und ergänzte Fassung.
  • Briefs, Rudolf (2018): Interview am 14.3.2018 mit Haro von Laufenberg. MPEG-3, transkribiert von Haro von Laufenberg.
  • Dostall, Wilhelm (Hg.) (1925): Adreßbuch für Eschweiler und Umgegend. Eschweiler: Wilhelm Dostall Verlag.
  • Eschweiler Zeitung. Eschweiler Geschichtsverein, Digitale Zeitungssammlung. Faksimiles der Ausgaben 1933 bis 1943 der im Verlag von Cornel Herzog erschienenen Tageszeitung.
  • Gasten, Elmar (1992): Aachen in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft 1933–1944. Frankfurt/M: Peter Lang (Europäische Hochschulschriften Reihe 3, Bd. 541).
  • Küpper, Simon (Hg.) (2002): Eschweiler Geschichtsverein e.V. Mitteilungen für Mitglieder und Freunde unseres Vereins [Mitteilungsblatt] (Jg. 27 Nr. 255).
  • Lepper, Herbert (Hg.) (1994): Von der Emanzipation zum Holocaust. 2 Bände. Aachen: Mayer'sche Buchhandlung (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Aachen, Bde. 7, 8).
  • Lilla, Joachim (2004): Statisten in Uniform. Die Mitglieder des Reichstags 1933 - 1945. Ein biographisches Handbuch. Unter Einbeziehung der völkischen und nationalsozialistischen Reichstagsabgeordneten ab Mai 1924. Unter Mitarbeit von Martin Döring und Andreas Schulz. Düsseldorf: Droste (Veröffentlichung der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der Politischen Parteien).
  • Müller, Thomas (2003): Zwangsarbeit in der Grenzzone; Der Kreis Aachen im Zweiten Weltkrieg. Aachen: Shaker Verl. (Aachener Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 1).
  • O., Dietrich* (2017): Interview am 30.9.2017 mit Armin Gille und Haro von Laufenberg. MPEG-3, transkribiert von Haro von Laufenberg.
    * Name hier geändert, im Interview sind die persönlichen Daten vollständig und umfänglich angegeben.
  • Schmidt, Horst (2014): Juden in Eschweiler; Eine Zeittafel. In: Schriftenreihe des Eschweiler Geschichtsvereins, Heft 29.
  • Schmidt, Horst (2010): Eschweiler in der Zeit des Nationalsozialismus. In: Filmpost, Nr. 47, Ausg. v. 24.11.2010, S. 41.
  • Schwarz, Meier; Lange, Karin (2004): Zur Tradierung falscher Opferzahlen; Die "Kristal­lnacht"-Lüge.
  • Schwerdtfeger, Christian (13.6.2018): Mehr Tote als bekannt bei Pogromnacht.
  • Siemens, Daniel (2017): Sturmabteilung; Die Geschichte der SA. München: Siedler Verlag.
  • Thalmann, Rita; Feinermann, Emmanuell (1988): Die Kristallnacht. Frankfurt/M.: Athenäum Verlag.
  • Viehöver, Heinz (2002): Eschweiler Lokalgeschichte der NS-Zeit; Wesentliche Einflüsse auf die politische Meinungsbildung der Bevölkerung 1933-1939. Eschweiler Geschichtsverein.
  • Westdeutscher Beobachter. Eschweiler Geschichtsverein, Digitale Zeitungssammlung. Faksimiles der Ausgaben 1934 bis 1943 der im Verlag der NSDAP erschienenen Tageszeitung (zugleich Parteiorgan).
  • Westdeutsches Grenzblatt. Eschweiler Geschichtsverein, Digitale Zeitungssammlung. Faksimiles der Ausgaben 1933 der im Verlag der NSDAP erschienenen Tageszeitung (zugleich Parteiorgan, 1934 fortgesetzt im "Westdeutschen Beobachter".