Haro von Laufenberg (2024):

Streik auf Diepenlinchen

17. März 1919

Die von der "Aktiengesellschaft für Bergbau, Blei- und Zinkfabrikation zu Stolberg und in Westfalen in Aachen" (kurz: Stolberger Gesellschaft) betriebene Blei- und Zinkgrube "Diepenlinchen" bei Mausbach (ehem. Gem. Gressenich, heute Stadt Stolberg/Rhld.) im sogenannten Hastenrather Zipfel (bis 1931 zu Hastenrath) war die mit Abstand größte Arbeitgeberin für die frühere Gemeinde Gressenich. Nach Darstellung von F. Holtz (2004) vertraten die Arbeiter auf Diepenlinchen 1919 weit über 50 % aller Haushalte in Mausbach, gut 40 % der Haushalte in Gressenich und wohl 75 % der Haushalte in Werth. In Vicht sollen 17 % vom Bergbau abhängig gewesen sein, in Schevenhütte 15 %. Hinzu kämen in indirekter Abhängigkeit Händler, Wirte, Fuhrleute pp.*

Im März 1919 kam es auf "Diepenlinchen" zum Streik der Arbeiter. Im Zuge dessen wurden die Arbeiter entlassen und die Grube geschlossen.

Der folgende Aufsatz schildert die Lage der Arbeiter, die Interessen der Grubenbetreiber und die tatsächlichen Betriebsverhältnisse und erklärt die vorzeitige Grubenschließung, mithin ein nachwirkendes Desaster für die Menschen in der früheren Gemeinde Gressenich, aus dem Kalkül des Profitinteresse heraus.

*F. Holtz (2004): Vor 85 Jahren in Mausbach Schließung der Erzgrube Diepenlinchen. In: F. J. Ingermann und R. Scholl (Hrsg. 2004): Blütezeit und Untergang der Erzgrube Diepenlinchen, S. 99-108, 106f.

1. Die Arbeiter
Organisation, Arbeitsbedingungen, Löhne, Lebenshaltungskosten
2. Die Arbeitgeber
Die Stolberger Gesellschaft im Spiegel ihrer Jahresbilanzen
Resümee

1. Die Arbeiter

Der Streik auf der Grube Diepenlinchen im März 1919 war, obschon vor dem Hintergrund der Novemberrevolution, kein politischer. Angeführt wurde er vom Gewerkverein christlicher Bergarbeiter und der Ausschuss der christlichen Gewerkschaften hatte schon 1911 den politischen Streik "verbrecherisch" genannt und die "Rheinische Post" höhnte von den "braven Kindern".1 Unbeirrt vom Krieg verfolgten die christlichen Gewerkschaften diese Linie auch noch 19192 und während andernorts Forderungen nach Kündigungsschutz, Arbeitszeitverkürzung, Mit- und sogar Selbstbestimmung erhoben wurden, ging es den Bergarbeitern auf Diepenlinchen allein um eine und, wie in der in Stolberg erschienenen Tageszeitung "Bote an der Inde" zitiert, "mäßige" Lohnerhöhung.

Die Kumpel nebenan im Eschweiler Bergwerksverein (EBV) als auch die in der Braunkohle, wo der Alte Verband (Sozialdemokraten) mit den christlichen Gewerkschaften zusammen auftrat, waren da schon weiter und hatten sowohl Lohnerhöhungen, im EBV um 10 - 15 %, als auch den 8-Stunden-Tag bei vollem Lohnausgleich durchgesetzt.3 Soweit wollten die "braven Kinder" auf Diepenlinchen gar nicht gehen, wollten Rücksicht auf die Belange der Grubenbetreiber nehmen und stellten den 12-Stunden-Tag nicht in Frage und betonten "nachdrücklich", dass sie sittsam und rechtmäßig handelten4. Sie zogen sich auf allein das zurück, was der Ausschuss der Gewerkschaften am 20. Februar 1919 in Eschweiler als Konsens erklärt hatte. Nämlich den bevorstehenden Kollaps der Industrieproduktion aufgrund der Unterernährung der Arbeiter.5

Wie der "Vorwärts" darstellte, waren im Vergleich zum Vorkriegsniveau die Löhne der Bergarbeiter bis zum Ende des Kriegs im Schnitt um 75 % angehoben worden, die Verbraucherpreise für Kartoffeln, also das Hauptnahrungsmittel der Arbeiterschaft, indes um 300 % gestiegen.6

Hauerlöhne auf Diepenlinchen im Schnitt pro Schicht und Preise für Kartoffeln per 1 kg und Rindfleisch per ½ kg7 (M. = Mark, Pfg. = Pfennig)

Jahr Lohn Kartoffel Rindfleisch
1900 3,68 M. 6 Pfg. 70 Pfg.
1918 7,50 M. 18 Pfg. 2,30 M.
1900 3,68 Mark 6 Pfg. 70 Pfg.
1918 7,50 Mark 18 Pfg. 2,30 Mark

Im Januar 1919 stieg der Kartoffelpreis um 2 Pfg./kg, im Verlauf des Jahres auf bis zu 33 Pfg./kg. Der Preis für ½ kg Rindfleisch stieg im Januar 1919 auf 2,70 Mark.

Im Besonderen galt für den Aachener Raum, dass das Leben dort teurer war als anderswo, denn um 1920 wurde Aachen als teuerste Stadt Deutschlands errechnet und die Aachener Preise wurden in der Umgebung teils sogar über­schritten.8 Bereits 1892 war ein Konsumverein mit Verkaufsstellen in Mausbach und dann auch in Gressenich gegründet worden, der den umliegenden Einzelhandel zu Preissenkungen bis zu 25 % nötigte und doch wurden seitens der Grube immer wieder mal Kartoffeln zugekauft und zum Selbstkostenpreis an die Arbeiter abgegeben.9 Die Löhne dagegen waren niedrig und auf der Grube Diepenlinchen "besonders niedrig"10, mithin niedriger als auf den anderen Gruben der Gegend und im reichsweiten Vergleich ohnehin.

Hauerlöhne im Schnitt pro Schicht zum Ende des Kriegs 191811 (M. = Mark)

Diepen-
linchen
Ober-
schlesien
Saar-
Revier
Reckling-
hausen
Die­pen­lin­chen Ober­schle­sien Saar-­Revier Reck­ling­hau­sen
7,50 M. 9,12 M. 11,45 M. 12,11 M.
7,50 Mark 9,12 Mark 11,45 Mark 12,11 Mark

Die Schicht unter Tage auf Diepenlinchen betrug netto acht Stunden. Es gab keinen Arbeitsschutz und die Ausbildung war Learning-by-Slaving. Männer, Jungen und Burschen wurden in die Grube geschickt und verschlissen. Frauen und Mädchen wurden ausschließlich über Tage verwendet und hatten an den Lesetischen das Erz vom wertlosen ("tauben") Gestein zu trennen. Die regelmäßige Arbeitszeit über Tage betrug netto 10 ¾ Stunden. Inklusive der vorgeschriebenen Pausen waren das 12-Stunden-Tage.12 Unter Tage wurde Akkordlohn gezahlt, im Übrigen nach tatsächlicher Verwendung.

Die Streikenden rechneten vor, dass ein Wasserhaltungsmaschinist auf Diepenlinchen in 35 Schichten im Januar 1919 mit allen Zulagen als Vorstand eines Fünf-Personen-Haushaltes 240 Mark verdiente, d.h. rund 7 Mark pro Schicht13.

Um dies aus heutiger Sicht nachvollziehbar darzustellen: Nach Abdankung des Kaisers entfielen der Feiertag zum Kaisergeburtstag am 27. Januar und der Feiertag der Wiederherstellung des Deutschen Reiches am 18. Januar, sodass von den 31 Kalendertagen im Januar lediglich die Sonntagsruhe (ab 1882) und der Neujahrsfeiertag als arbeitsfreie Tage in Abzug zu bringen waren. Es ergaben sich also 26 Arbeitstage à 12 Stunden am Arbeitsplatz, mithin in heutiger Darstellung eine 60-Stunden-Woche. Im Verhältnis allein zum Kartoffelpreis Ende 2018, der sprunghaft vom Vorjahrespreis von 55 Eurocent/kg auf 84 Eurocent/kg angestiegen war14, verdiente ein Wasserhaltungsmaschinist auf Diepenlinchen mit allen Zulagen für einen Fünf-Personen-Haushalt also nach heutigem Kurs 3,59 Euro für jede Stunde am Arbeitsplatz. Eher weniger. Wenn man nämlich den heute günstigsten Kartoffelpreis von 1 Euro/kg (so gesehen in Mausbach am 3.2.2024) zugrunde legt und den von 1919 bei 33 Pfg. ansetzt, kommt man auf 2,33 Euro/Stunde.

Dies sind sicherlich nur Annäherungwerte, und dies schon weil es 1919 zuweilen gar keine Kartoffeln gab, jedenfalls nicht genug. Es gab wohl Fälle, dass die Kartoffeln gleich zentnerweise angeliefert wurden, wie dem Regierungspräsidenten in Aachen. Als dies auffiel, rechtfertigte sich dieser, er bewahre die Kartoffeln nur für einen Dritten, gleichsam ein Beamter, der dieselben rechtmäßig erworben, aber keine Lagerungsmöglichkeit hätte, auf, und die Sache war damit für die Behörden, insbesondere die Lebensmittelämter erledigt. Ansonsten war die Abgabe rationiert auf 3,5 kg/Woche in den Kriegsjahren (für Schwerstarbeiter etwas mehr, 1917 indes auf 2,5 kg und weniger)15 und ab dem 13. Januar 1919 infolge geringerer Einlagerung wegen schlechter Haltbarkeit nach nasser Witterung bei gleichzeitigem Mangel an Erntepersonal und dem Rückmarsch der Truppen auf 2 kg/Woche.16 Was fehlte, konnte man sich zu freilich Wucherpreisen im illegalen sogenannten Schleichhandel besorgen, und was da verlangt wurde, wurde alsbald mit der Preisfreigabe sanktioniert. Ein Ei beispielsweise kostete bis zum April 1919 60 Pfg., aber noch im Frühjahr 1919 nach der im besetzten Rheinland verzögerten Preisfreigabe 1 Mark. Empfahlen die Lebensmittelämter bei Kartoffelmangel wieder auf Möhren und Rüben zurückzugreifen, wie schon im Steckrübenwinter 1916/17, stiegen auch gleich die Preise für Möhren. Überhaupt stiegen die Preise. Die Stolberger Eisenbahner (die nach dem Besatzungsrecht nicht streiken durften) wandten gegen die Aufforderung der Stolberger Handelskammer zur Lohnmäßigung ein, dass ein "Arbeiteranzug", die zur Arbeit taugliche, grobe, dafür etwas mehr als üblich robuste Einmalbekleidung, vor dem Krieg 4,50 Mark gekostet habe, nun jedoch 70 Mark.17 Nach einer Berechnung in der Zeitschrift für das Montan- und Hüttenwesen "Glückauf" betrug die Teuerung bis zum Februar 1920 gegenüber dem letzten Vorkriegsmonat (Juli 1914) reichsweit für Lebensmittel 948 % und für Wohnung 700 %.18 Im Ruhrbezirk, so nach den Angaben in der "Glückauf", habe die Teuerung über denselben Zeitraum insgesamt 731 % betragen, die Lohnsteigerung 705 %.19

Erst 1917 infolge der Mangeljahre und der Teuerung über die Kriegszeit hatte die Arbeiterschaft auf Diepenlinchen Lohnerhöhungen gefordert und den vergleichsweise niedrigen Hauerlohn von durchschnittlich 7,50 Mark 1918 durchsetzen können. Im November 1918 stellte man neue Forderungen, die man indes, nachdem die Grubenleitung kategorisch abgelehnt hatte, im März 1919 reduzierte und für die man nun streikte:

Hauer, und zwar gleichermaßen Ober-, Voll- und Lehrhauer sollten durchschnittlich 9,50 Mark pro Schicht erhalten, Schichtlöhner 8 Mark und der Lohn der Schlepper, Wasserhaltungsmechanisten, Lokomobilheizer und Fördermechanisten sollte um 25 % angehoben werden und in entsprechenden Verhältnissen die der übrigen Arbeiter/innen. Diese Forderungen seien nun nach langer Bedenkzeit und wiederholten Verhandlungen unabdingbar und da auch die Grubenleitung in den Verhandlungen die Notlage der Arbeiterschaft, dass die Hungerlöhne zum Überleben nicht reichten, zugestanden habe, befänden die Arbeiter sich im Recht, wenn sie nun zum sittsamen Streik als notwendiges letztes Mittel griffen.20

Das waren äußerst moderate Forderungen. Denn schon im November 1920 war das Existenzminimum im Aachener Raum nach der Darstellung bei W. Bender auf einen Stundenlohn [!] von 9,37 Mark bei 48-Stunden-Woche berechnet worden.21

2. Die Arbeitgeber

Die Stolberger Gesellschaft wurde wie ein Familienunternehmen geführt – der Vorstand war Großaktionär –, also der Zeit entsprechend von einem Patriarchen, und hatte eine überschaubare, geradezu wie handverlesene Anzahl an Aktionären. Das Interesse an der Grube Diepenlinchen erstreckte sich ausschließlich auf die schnellste und größtmöglichste Verzinsung des Aktienkapitals.22

Da der Ertrag aus dem Zinkhandel, dem Hauptgeschäft der Stolberger Gesellschaft, vom Weltmarkt abhängig war, sah dieselbe den Bilanzberichten zufolge folgerichtig in der Kriegswirtschaft von Anfang an erhebliche Belastungen. Zunächst 1914 aufgrund der Transportschwierigkeiten, die durch den Aufmarsch des kaiserlichen Heeres im Westen und den Überfall auf Belgien entstanden waren. Im weiteren Kriegsverlauf in den kriegsbedingten Importeinschränkungen, die zu Rohstoffmangel für die Hütten führten. Nicht zuletzt sah man erhebliche Ertragseinschränkungen durch die das Heer begünstigende Förder-, Preis- und Absatzregulierung der Reichsregierung einschließlich der Requirierung von Vorräten, trotz der die Bücher füllenden Aufträge, die kriegsbedingt aber eben vom Heer und nicht aus dem freien Markt kamen. Dies führte 1916 zur Schließung der Bleihütte Münsterbusch, deren baulicher Zustand eine Wiedereröffnung auch nicht zugelassen hätte, und zur vorsorglichen "Abstoßung" der Gruben, die man als "allmählich unsicheren Besitz"23 betrachtete. Bei der Grube Diepenlinchen wurden speziell noch die schwierigen Wasserverhältnisse wertmindernd und der kriegsbedingte Kohlenmangel zum Betrieb der Dampfmaschinen für die Sümpfung angesetzt, bei den Gruben im Lahnbezirk speziell der Streit mit den Behörden über die Ursache der nachlassenden Ergiebigkeit der Emser Heilquellen, die man wohl weggesümpft hatte, und bei den spanischen Gruben eine allgemeine Unsicherheit, da kriegsbedingt die Nachrichten darüber abgerissen waren.

Die "Abstoßung" erfolgte durch eine Umwandlung in bergrechtliche Gewerkschaften, die als "Beteiligungen" ausgewiesen wurden, obgleich die Stolberger Gesellschaft sämtliche oder doch nahezu sämtliche Kuxen innehatte, die Gewerkschaften mit Kapital und Krediten versorgte und die Förderung sowie den Vertrieb bestimmte. Ein "eigentümliches Bilanzschema", das den Wert der eigenen Anlagen verschleiere, indes "wohl sehr erhebliche innere Reserven" enthielt, befand 1927 "Der deutsche Volkswirt"24, einer der führenden Wirtschaftsauskunftsdienste der Weimarer Republik. Denn man habe, so die Analysten beim "Deutschen Volkswirt", 1926 im Zuge der Übernahme der Rheinisch-Nassauische Bergwerks- und Hütten-Aktiengesellschaft (Eschweiler Gesellschaft) "unter der Hand" im umgekehrten offiziellen Verhältnis – die Offerte war 2:3, zwei Stolberger Aktien gegen drei der Rheinisch Nassauischen – 2,1:1 gekauft.

Ein weiteres Renditerisiko für den Grubenbetrieb sah man im kriegsbedingten Arbeitermangel. Dem konnte man auf der Grube Diepenlinchen noch entgegenwirken, indem man rund 175 russische Kriegsgefangene zur Zwangsarbeit heranzog25. Sich solcherweise günstig Arbeitskräfte zu beschaffen, war ja nach Art. 6 der Haager Landkriegsordnung von 1907 zulässig. Aus Gründen der militärischen Abwehr sollten Kriegsgefangene jedoch in geschlossenen Gruppen arbeiten, was in der Industrie weit weniger effizient gewesen sein dürfte als in der Landwirtschaft. Indes bedrängten die Lohnforderungen der notwendig übrigen und weil auch erfahrenen, am Existenzminimum krebsenden Arbeiter die Gewinnmarge.

Schon die mit dem Gesetz von 1881 zur Änderung der Gewerbeordnung 1882 wirksam gewordene Sonntagsruhe war den Unternehmern ein Dorn im Auge gewesen. "Beihilfen" der Grube wie die zeitweilige Abgabe von Kartoffeln zum Selbstkostenpreis (angesichts der überhöhten Preise im Mausbacher Kleinhandel) und die Gründung des Konsumvereins waren im Grunde keine Sozialleistungen. Sie dienten dazu, die Lohnkosten niedrig zu halten und waren allenfalls Sekundärtugenden: Bereits 1830 hatte der Aachener Wollhändler, Bankier und Politiker David Hansemann im Blick auf die Juli-Revolution eindringlich darauf hingewiesen, dass die Gesunderhaltung der Arbeiter dem Profitinteresse mehr Vorteile bringe als das Tot-Arbeiten der Arbeiter. Soziale Unruhen wirkten sich allgemein schlecht auf das Geschäft aus und Ausfälle erfahrener Arbeiter, zumal an Maschinen, waren durch die Produktionsstockung teurer, als neue anzulernen. Schon die großartige Gemäldeschenkung von Barthold Suermondt (Aktionär der Stolberger Gesellschaft) an die Stadt Aachen war nicht unbedingt Mäzenatentum, sondern auch eher eine Sekundärtugend, denn Vermögenswerte wurden dem Zugriff von Gläubigern entzogen, blieben im Nießbrauch des "Spenders" und im Gegenzug wurde Huldigung verlangt und erwiesen.

Insofern ist auch die Kriegsfürsorge, für welche die Stolberger Gesellschaft die Arbeiter freilich zu gleichen Teilen in Anspruch nahm, in erster Linie gesellschaftseigenen Zwecken zuzudenken. Die Stolberger Gesellschaft tat wohl so gerade das Nötigste, um sich Arbeiter – die man gleichermaßen wie Material, nämlich als "erhältlich"26 ansah – zu Renditezwecken zu sichern. 1917 dann hätten "stetig wachsende Lohnansprüche der Arbeiter [...] den Betrieb mehr als je vorher verteuert und erschwert"27. Die "stetig wachsenden Lohnansprüche" der "braven Kinder" auf Diepenlinchen fielen indes recht bescheiden aus und waren kaum geeignet, mehr als das nackte Überleben zu sichern.

Die Stolberger Gesellschaft war nun unter den Unternehmen im Montan- und Hüttenwesen, insbesondere im Vergleich mit denen im Ruhrgebiet, ein Zwerg unter Riesen. Die "Geldlage" jedoch war in diesem Verhältnis bei der Stolberger Gesellschaft stets "gut".

Ein Schalk mag sein, wer Übles dabei denkt, vielleicht meinte die katholische Tageszeitung "Bote an der Inde" es nur gut mit den "braven Kindern", dass sie direkt unter den Forderungen derselben 1919 nach "mäßigen" Lohnerhöhungen, erkennbar solchen am Existenzminimum, die Dividende an die Aktionäre der Stolberger Gesellschaft für das Kriegsjahr 1918 bekanntgab.28

Gewinnverwendung an Aktionäre der Stolberger Gesellschaft29

Jahr Dividende in % auf das Aktienkapital = in vollen Mark
1910 5 %     845.940 Mark
1911 ./. ./.
1912 10 % 1.691.880 Mark
1913 7 % 1.184.316 Mark
1914 4 %     676.752 Mark
1915 9 % 1.522.692 Mark
1916 10 % 1.691.880 Mark
1917 9 % 1.522.692 Mark
1918* 6 % 1.015.128 Mark
1919** 30 % 3.383.760 Mark
1920*** 30 % 5.111.640 Mark

*Im Ergebnis Wertberichtigung u.a. auf Kriegsanleihen. Die Papiermark hat 50 % Kaufkraft im Innen- und Außenverhältnis ggü. der Vorkriegszeit verloren.

**Am 31.1.1919 ist die Papiermark auf 25 % Goldmark gesunken.

***Am 31.1.1920 ist die Papiermark auf 10 % Goldmark gesunken.

An der Hauptversammlung 1919 nahmen acht Aktionäre teil, um die Dividende für 1918 zu beschließen.30 1942, lange nach der Übernahme der Rheinisch Nassauischen und nach weiteren Kapitalerhöhungen waren es 32 Aktionäre, die rund 76 % des Aktienkapitals hielten.31

Dass Gewinne an wenige ausgeschüttet wurden, wird auch den Arbeitern auf Diepenlinchen bekannt gewesen sein. Denn dort hieß es, "die Gesamtlage der Aktiengesellschaft [...] ist derart, dass die Forderungen der Arbeiterschaft bei einigem guten Willen sich erfüllen lassen".32 Auch schien die Grube weder erschöpft zu sein, noch dass sich die Wasserprobleme nicht lösen ließen. H. Bittner (2018) nimmt nach dem Saigerriss an, dass ein Abbau "im Brennnesselstockwerk [...] noch mindestens vier Jahre hätte weiterbetrieben werden können"33 und in einem zeitnahen Gutachten aus dem Bergamt Bonn, 1925, wird die Wiederaufnahme des Grubenbetriebs dargestellt.34

Man kann annehmen, dass auch dies den mit der Grube ja doch bestens vertrauten Bergarbeitern bekannt gewesen ist, und sie in der Summe der Gründe als "brave Kinder" allein vor der schieren Not den Mut zum Streik gefunden hatten, gleichwohl die Grubenleitung offenbar unverhohlen mit der Grubenschließung drohte.35

Doch der Poker ging nicht auf. Das war kein Bluff, die Grubenleitung entließ im März 1919 die Arbeiter und die Grube ließ sie ersaufen.

Resümee

In einschlägiger Literatur werden die Direktoren der Stolberger Gesellschaft bzw. die der Gewerkschaft Diepenlinchen zitiert, der Streik habe ihnen die "Handhabe" zur Schließung der Grube ge­lie­fert.36

Es gab indes gar keinen Kündigungsschutz. Angestellte mochten Kündigungskosten verursachen, dass Abfindungen zu leisten waren, wenn die Entlassung nicht in Gründen lag, die der Angestellte zu vertreten hatte, und die ordentliche Kündigung von Angestellten musste fristwahrend erfolgen. Aber das war kein Kündigungsschutz. Arbeiter konnten von einem Tag auf den anderen gefeuert werden und dazu brauchte es nicht einmal eines vertretbaren Grundes, die Laune eines Arbeitgebers reichte völlig aus. Nur für die Sicherheitsmänner unter Tage gab es einen gewissen Kündigungsschutz, nämlich den aus § 80 fo nach dem Gesetz vom 28. Juli 1909 betreffend die Abänderung des Allgemeinen Berggesetzes, wonach die Kündigung von Sicherheitsmännern durch den Revierbeamten überprüfbar war.37 Wenn aber doch die Grube geschlossen werden sollte, sollte auch dies kein Hindernis gewesen sein.

Mithin konnten die Herren Direktoren die Grube schließen, wann immer ihnen dies beliebte, und bedurften dazu keiner "Handhabe". Man dürfte vielmehr kalkuliert haben, und dies bereits seit 1916, was unter den Geboten der Bilanzpolitik mehr Profit versprach: die 400.000 Kubikmeter Födergut nach dem oben erwähnten Gutachten aus dem Bergamt Bonn zu höheren Lohn- und weiteren Betriebskosten mit geringerer Rendite für die Aktionäre und zum Wohl der Arbeiter zu verwerten, oder dieselben komplett einzusparen und dafür auf die 400.000 Kubikmeter zu verzichten. Das hätte nicht unbedingt teurer kommen müssen. Denn der Nebeneffekt bei Einsparung der Lohnkosten war ein Fanal an die Arbeiter in den sonstigen Betrieben der Stolberger Gesellschaft, "brave Kinder" zu sein und keine Forderungen zu stellen. Gerade in der damaligen Zeit reichsweiter sozialer Unruhen mit Forderungen nach fairen Löhnen und menschenwürdiger Behandlung, nach Arbeitszeitverkürzung bei Lohnerhöhung, sozialer Absicherung, Arbeitsschutz und Kündigungsschutz pp. dürfte solch ein Fanal zur Disziplinierung der Arbeiterschaft und vielleicht auch aus Klassenbewußtsein als geldwerter Posten kalkuliert worden sein.

Außerdem gab die Grube auch ohne die Arbeiter noch einiges aus der Aufbereitung her. Nach den Bilanzen der Stolberger Gesellschaft wurden zwischen 1928 und 1935 insgesamt 26.241 t Zink und 3.577 t Blei aus den Schlämmteichen gewonnen. Fernerhin wurden nach den Bilanzberichten der Stolberger Gesellschaft von 1936 an Hunderttausende t Haldenmaterial aufbereitet, wobei die Ausbeute indes nicht angegeben wird. H. Bittner (2018) nennt für die Jahre 1936 bis 1942 einen Gewinn von 13.796 t Zink und 525 t Blei.38 Mithin ergab die Aufbereitung also noch 40.037 t Zink und 4.102 t Blei, was in etwa der geförderten Menge der fünf Jahre 1896 bis 1900 entsprochen hat.

Bei den Arbeitern, bei einem Großteil jedenfalls, mag eine gewissen Naivitätt und, wenn man das Foto kritisch betrachtet, Larmoyanz vorgelegen haben. Unerfahren mit dem ungewohnten demokratischen Umgang wie bei der Entscheidung über den Streik, wohl auch ertüchtigt vom Erfolg der Kumpel im Eschweiler Bergwerksverein im Februar 1919, mag man überrascht worden sein von der sozial völlig rücksichtslosen, knallharten Entschlossenheit der Herren in der Stolberger Gesellschaft und der in den von ihnen beherrschaften bergrechtlichen Gewerkschaft. Denn angesichts der Entlassungen und dem Ersaufen der Grube beauftragten die "braven Kinder" ihren christlichen Gewerkverein, bei den staatlichen Stellen auf das Desaster "aufmerksam zu machen".39 Von da kam freilich keine Hilfe, denn man war immer noch zu "brav", um alleine Aufmerksamkeit zu erheischen. Vielmehr hatte die Regierung der Handelskammer in Stolberg versichert, sich für die Belange der Industrieherren stark zu machen.40

Eine Folge des Streiks mögen ein paar Kirchenaustritte bei der Mausbacher Arbeiterschaft gewesen sein und die Beobachtung, dass sich ab 1920 in Stolberg und dann auch in Mausbach Arbeiter zu Betriebs- bzw. Ortsgruppen der Anarcho-Syndikalisten zusammenfanden. Geholfen hatte dies nicht, denn nach 1923 im Zuge der Nationalisierung und Patriotisierung gegen die Rheinische Republik haben sich diese Spuren wieder verloren.41

Das war die eigentliche Folge. Denn 12 Stunden am Tag und sechs Tage die Woche im Dunkel, die Fahrjungen mit blanken und bis die vernarbt waren aufgeschürften Füßen, zu knechten, und das für einen Lohn unter dem Existenzminimum, lief ja bloß auf ein längeres Elend hinaus. Der sonntägliche Kirchgang und das Gebet vor jeder Schicht42 haben das Elend noch befördert, denn das wurde ja als gottgewollte Ordnung eingebläut, und das war die eigentliche Katastrophe: dass die Eliten die Leute anhielten, an diesen Spuk zu glauben.