Heinrich Gille (1949):

Aus meinem Leben

Selbstzeugnis 1910-1949

Der Bergmannssohn Heinrich Gille (1904-1987) aus Eschweiler verfasste im Oktober 1949 im Lungenkrankenhaus in Süchteln eine Handschrift, in der er seine Eltern und den eigenen Lebensgang bis 1948 schildert. Insbesondere widmete er sich darin der Zeit, in der er als Wehrmachts-Zahlmeister zum Ende des Zweiten Weltkriegs nach Galizien versetzt wurde und dort in Kriegsgefangenschaft geriet.

Handschrift, Transkription und Fotos zum Text: Armin Gille. Annotationen und Vita von Haro von Laufenberg.

Inhalt:

[Prolog]
Zu den Lebensumständen vor dem Ersten Weltkrieg
Mein Vater
Johann Gille, *17.10.1860 in Werth/Gem. Gressenich, Bergmann auf Grube Reserve in Nothberg, †27.2.1931 in Hastenrath
Meine Mutter
Louise Kertzmann, *18.1.1863 in Alfter, Hausfrau, †10.11.1946 in Hastenrath/Eschweiler
Aus meiner Kindheit und Schulzeit
1910-1928; Aushilfsarbeiten in der Rüstungsindustrie, Lehre als Metalldrucker, Ausbildung am Aachener Orchester zum Trompeter, Eintritt in das Musikerkorps der Reichswehr
Etwas aus meiner Soldatenzeit
1929-1939; Musikkorps der Reichswehr/Wehrmacht in Münster
Der Krieg im Westen
1940/41; Teilnahme am Westfeldzug bis November 1940, Ausbildung zum Zahlmeister
Ich wurde Wehrmachtsbeamter
1942-1948; Verwendung beim Wehrmachtfürsorge- und –versorgungsamt in Düsseldorf, Juli 1944 Truppenzahlmeister in Galizien, 1945 Gefangennahme in Böhmen, Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion
Süchteln, im Oktober 1949.

Aus meinem Leben

Es war das Jahr 1904 – Niemand ahnte, daß in geschichtlich so kurzer Zeit zwei folgenschwere Kriege über Deutschland und die ganze Welt kommen würden. In dem von Bismarck festgefügten Reich herrschte Wohlstand. Industrie und Landwirtschaft blühten. Die Glorie des Kaisertums überstrahlte das gesamte völkische Leben. An Krieg dachte keiner. Die Gegensätze im fernen Osten – der Krieg zwischen Japan und Rußland – und die Folgen der Konferenz von Algeciras beunruhigten nicht. Unter dem starken Schutz der Flotte vollzog sich ungestört der beachtliche deutsche Überseehandel; das wohlausgerüstete und schlagfertige Heer gab auf dem Festland unbedingte Sicherheit. So schien der Friede für immer verbürgt zu sein.

In dieser Zeit, die mir später von älteren Leuten stets als die glücklichste gepriesen wurde – man sprach oft und gern von der "guten alten Zeit" – wurde ich geboren. Mein Geburtsort war ein kleines Dorf in unmittelbarer Nähe der Stadt Eschweiler, früher eine selbständige Gemeinde, jetzt gehört sie zum Stadtgebiet. In unserem Ort nahm der Wohlstand keine exponierte Stellung ein. Die Männer waren fast ausnahmslos Bergleute, die auf der unweit gelegenen Grube ihrer schweren Arbeit nachgingen. Ein kleiner Teil fand auch Beschäftigung in der umliegenden eisenverarbeitenden Industrie. Trotz der täglichen schweren Arbeit und des recht bescheidenen Einkommens waren alle zufrieden. Abends wurde noch fleißig im Garten geschafft, und man fand Zeit zu einem geselligen Schwatz. Bei festlichen Anlässen zeigte sich überquellender Frohsinn, der besonders bei der Kirmes und während der Karnevalszeit durchbrach.

Kunterbunt waren die kleinen Arbeiterhäuser zusammengestellt. Die Landschaft bedeutet nichts Besonderes. Wir Kinder fanden jedoch in den verlassenen Steingruben, die hausgroße Steinbrocken und verborgene Gänge bargen, ein ideales Feld für unsere Kriegs- und Räuberhauptmannspiele. Manche vergnügte Rutschpartie machten wir von den Kiesbergen des kleinen Erzwerkes! Abb. 1 Auf den mageren Gemeindewiesen und in den kleinen Buschparzellen hüteten wir die Ziegen und fanden uns hierbei zu Spielen mancherlei Art zusammen. Nicht selten vergaßen wir dabei Zeit und Ziegen. Kamen wir dann abgehetzt zu Hause angerannt, standen die Ziegen schon im Stall und verzehrten behaglich ihr Abendfutter.

Ich war das jüngste Kind von acht Kindern. Abb. 2 Zu dieser Zeit mußten alle Lebensbedürfnisse vom schmalen Verdienst meines Vaters bestritten werden. Ich erinnere mich zwar nicht, daß jemals Not bei uns zu Hause war – wenigstens spürten wir Kinder nie etwas davon – aber alles mußte sich doch nach der Decke strecken.

Mein Vater

Mein Vater1 war überall beliebt und geachtet. Er genoß allgemein ein gutes Ansehen. Sprach man vom alten Papa Gille, zog bei manchem alten einheimischen Bürger ein stilles Schmunzeln über das Gesicht. Der Grund hierfür ergab sich aus einem Vorkommnis während der vierzigjährigen Tätigkeit meines Vaters als Bergmann. Ruhig und gemessen, dabei aber von steter Freundlichkeit und zuvorkommendem Wesen war er bekannt und überall gern gesehen. Seine Vorgesetzten schätzten ihn als fleißigen Arbeiter. Unzufrieden war er nie; Unwilligkeit kannte er nicht.

Einmal ergab sich, daß in seinem Grubenrevier ein neues Kohlenfeld abzubauen war. Die Flöze waren von mäßiger Stärke, die Kohle hart und fest. Gegen Ende der Schicht erschien der Obersteiger, um sich über den Fortgang der Arbeit zu orientieren. Auf die Frage: "Wie geht es?" antwortete der alte Papa Gille mit dem berühmt gewordenen Ausspruch: "Mächtig, prächtig, Herr Obersteiger!" – "So! Und wieviel Kohlen habt ihr heute gefördert?" – "Wenn wir diesen Hund2 voll haben und noch einen, dann haben wir zwei." Der zunächst verdutzt dastehende Obersteiger konnte sich dann doch eines stillen Lächelns nicht enthalten. Schnell machte diese kleine Begebenheit überall die Runde und erregte allerorts Heiterkeit. Noch heute erlebe ich es, daß hin und wieder ein alter Bergmann beim Vorbeigehen oder bei einem kurzen Verweilen in der Dorfschänke mit wissendem Schmunzeln mir die Worte: "Mächtig, prächtig!" zuruft.

Wie man allgemein sagt, reitet jeder sein Steckenpferd, das heißt, ein jeder Mensch treibt irgendeine Liebhaberei. So mein Vater auch. Mit Vorliebe blies er Klarinette. Als junger Mann hatte er bei einem nicht allzu begabten Musiker einige Unterrichtsstunden genossen. Viel war dabei nicht herausgekommen. Es reichte gerade zur Kenntnis der Fingersätze und der einzelnen Griffe. Seit dem übte er fleißig fast jeden Tag in einer dickleibigen Klarinettenschule sein Pensum durch. Schwierige Passagen, Tonleitern mit mehreren Vorzeichen sind ihm allerdings stets ein Geheimnis geblieben; aber die damals üblichen leichten Tänze beherrschte er fehlerlos. Höhepunkte seiner musikalischen Lieblingstätigkeit waren die Abende, an denen er mit fünf bis sechs ähnlich begabten Kameraden – so nannte er sie immer – anläßlich der Kirmes oder bei einer sonstigen Festveranstaltung zum Tanz aufspielen konnte. In den Pausen wurde manch kräftiger Witz zum Besten gegeben, und die Flasche machte in ehrlicher Weise ausgiebig die Runde. Das dabei herausspringende Verdienst reichte gerade, um die Auslagen zu decken. Das genügte ihm denn auch voll und ganz.

Solange ich mich entsinnen kann, ist mein Vater bis zu seiner Pensionierung nie krank gewesen. Seine Arbeit hat er an keinem Tag versäumt. Täglich arbeitete er auch mindestens drei bis vier Stunden im Garten. Mein Großvater – von Mutters Seite her – war Schneider und Gärtner gewesen. Die Tätigkeit als Gärtner übernahm mein Vater bei der Verheiratung und setzte sie später fort. Es handelte sich hierbei allerdings nicht um einen Gärtnereibetrieb nach großstädtischem Muster. Er züchtete die allgemein gebräuchlichen Pflanzen und baute die üblichen Gemüsesorten an. Dazu verkaufte er noch eine geringe Menge an Sämereien. Seine Arbeit als Gärtner brachte ihm viel Mühe, erbrachte jedoch ebenso wie die musikalische Tätigkeit keine nennenswerte Einnahme. Der sich hieraus ergebende kleine Gewinn verschwand in Mutters tiefer Tasche.

Neben dem Klarinettenblasen hatte mein Vater noch eine andere Passion. Es war dies das Fangen und Aufzüchten von Vögeln. Diese Leidenschaft hatte er von seinem Vater übernommen. Wenn der Winter mit Frost und Schnee seinen Einzug hielt, hüpften vornehmlich die kleinen futtersuchenden Finken bei uns im Hof umher. Stundenlang konnte mein Vater dem lustigen Treiben zusehen, wenn die kleinen Tierchen die hingeworfenen Brotkrumen auffingen und gierig verzehrten. Nach einigen Tagen konnte er dann seiner Lust nichtwiderstehen, er mußte ein oder zwei der Vögel fangen. Unermüdlich war nun seine Sorge für die kleinen bescheidenen Sänger. Wiederholt stellt er auch Aufzuchtversuche mit Kanarienvögeln an. Soviel ich mich entsinne, ist er hierbei nie zu einem Erfolg gekommen.

Ohne Pfeife kann ich mir meinen Vater nicht vorstellen. Abb. 3 Papa Gille ohne Pfeife wäre wie ein Schornsteinfeger ohne Rußflecken gewesen, oder wie ein junges Mädel, das den Dorfburschen nicht gefallen möchte. Jede Woche rauchte er sein halbes Pfund festen, starken Strangtabak. Kam mein Vater am Ende der Schicht von der Grube nach Hause, so fand er stets ein Schnäpschen vor. Es war dies ein sogenannter Schobbe Klare. Er kostete 20 Pfennig und war nicht von der besten Sorte. Aber er genügte ihm.

Hin und wieder trank mein Vater auch einen über den Durst. Dies war wohl sein einziger Fehler. So rund alle zwei Monate kam das vor. Dann konnte es sein, daß Mutter schimpfte. Papa Gille wurde dann auch leicht etwas hitzig. Hatte er seinen Rausch ausgeschlafen, war alles vergessen und vergeben. Meine Eltern haben nie ernstlich Streit gehabt, obwohl sie an und für sich ganz verschieden veranlagte Menschen waren. Zum Lobe meines Vaters sei gesagt, daß er korrekt und peinlich sauber war. Sein Werkzeug lag stets am gleichen Platz; auch wenn er zur Arbeit ging, da hatte er keinen Staubflecken an seiner Kleidung. An Sonn- und Feiertagen achtete er ganz besonders auf Sauberkeit und tadellosen Sitz der Krawatte. Meine Mutter hatte diesen Ordnungssinn nicht.

Höhergestellten zeigte mein Vater immer die nötige Achtung; im Freundes- und Kameradenkreis war er überall gleich beliebt, und mit den Nachbarn hielt er stets Frieden. Während der langen Winterabende las er gerne ein unterhaltsames Buch. Große Ansprüche stellt er bei der Auswahl des Lesestoffes nicht. Die vom Borromäusverein entliehenen Schriften fanden in der Regel seine Zustimmung. Langsam und bedächtig las er jeden Abschnitt durch. Tage oder sogar Wochen später erzählte er dann bei guter Gelegenheit mit eigenen Worten den Inhalt des gelesenen Buches. Diese schönen Stunden ergaben sich häufig dann, wenn wir an kalten Wintertagen Kaffee getrunken hatten, die Dämmerung einsetzte und wir Kinder uns um den warmen Ofen ein Plätzchen auf dem Boden oder auf der Fußbank gesucht hatten. Dann ließ auch die Mutter für eine Weile ihre regsamen Hände im Schoß ruhen. Häufig erzählte er uns auch etwas Lustiges. Er besaß ein kleines Repertoire an Witzen, der er gerne zum Besten gab und dabei am Schluß selbst der größte Lacher war. Uns waren diese Erzählungen später so vertraut, daß wir das Ende gleich erraten konnten. Trotzdem lauschten wir immer wieder gern den lustigen Schnurren.

Ruhig und zufrieden, wie ein gut gehendes Uhrwerk, lief das Leben meines Vaters ab. Diese Zufriedenheit konnte man richtig spüren, wenn man mit ihm umging. Uns Kindern gegenüber gebrauchte er nie ein böses Wort. Mit Ablauf des Monats, in dem er 65 Jahre alt wurde, ließ er sich pensionieren. Er war zu diesem Zeitpunkt weder krank noch altersmüde, sondern besaß seine volle Rüstigkeit. Und doch war es ihm nicht vergönnt, noch lange dieses beschauliche Leben zu führen. Während der letzten Jahre lebte er mit der Mutter allein in unserem kleinen Häuschen. Alle Kinder waren ausgeflogen. Ich selbst lebte seit mehreren Jahren in Münster.

Unerwartet erlitt mein Vater einen Blutsturz, der ihn auf das Krankenlager warf. Von Krankheit wollte er auch dann noch nichts wissen. "Ich bin doch nicht krank, ich will aufstehen!" sagte er immer wieder. Eine Besserung sollte er nicht mehr erleben. Im März 1931 starb er. Die Nachricht von seinem Tode erreichte mich während einer Orchesterprobe in Münster. Da wir am folgenden Tag noch ein großes Rundfunkkonzert ausführen mußten, konnte ich erst ganz kurz vor der Beerdigung zu Hause eintreffen. Die rege Teilnahme an der Beerdigung meines Vaters zeigte deutlich seine große Beliebtheit. Jeder Mann aus dem Dorfe, der abkommen konnte, gab dem alten Gille die letzte Ehre.

Meine Mutter

Das Leben meiner Mutter3 war eine ununterbrochene Kette von Arbeit und Sorge für die Familie. Zum Ausruhen und Kranksein blieb keine Zeit. Gott sei Dank wurde sie auch von keinem Leiden geplagt. Bis in ihr hohes Alter bewahrte sie ihre körperliche und geistige Rüstigkeit. Sie wurde im Jahre 1863 geboren und entsann sich noch recht gut des Deutsch-Französischen Krieges, wußte viel zu erzählen von dem 3-Kaiserjahr und war ein junges Mädel, als Bismarck im Reich Politik machte. Um die Jahrhundertwende, in der "guten alten Zeit", stand sie im besten Alter. Als 50-jährige erlebte sie den Ersten, als 80-Jährige den Zweiten Weltkrieg, und im 83. Lebensjahr ging sie den schweren Weg in die Evakuierung4.

Im Jahre 1889 heirateten meine Eltern. 1890 kam das erste Kind zur Welt, als achtes machte ich 1904 den Abschluß. Bei meinen Eltern war Fleiß und guter Wille vorhanden, an irdischen Gütern dagegen sehr wenig. Eine Fülle von Arbeit verursachten die Kinder, daneben half Mutter aber auch fleißig im Garten mit und versorgte das Vieh. Zwei Ziegen und ein Schwein waren immer zu betreuen. Zur Erntezeit, oder wenn die Arbeit in der Landwirtschaft besonders drängend war, half dazu die Mutter noch beim Bauern aus.

In ihrem langen Leben fehlte es nicht an harten Schicksalsschlägen. Von acht Kindern mußte sie vier ins Grab legen, eins verblieb im Ersten Weltkrieg. Das älteste Kind starb mit drei Jahren an den Folgen einer heftigen Verbrennung, das zweite erlag in jungen Jahren der Diphtherie, und mit zwölf Jahren fiel das siebte Kind einer tückischen Lungenentzündung zum Opfer. Den schwersten Schlag erlitt meine Mutter, als ihre einzige Tochter, die selbst schon Mutter von drei kleinen Kindern war, plötzlich infolge eines Herzschlages verstarb. Die Versorgung der Kinder und des kranken Mannes nahm sie wortlos auf sich, doch den Schmerz über den jähen Tod dieses Kindes hat sie nie ganz verwinden können. Auf dem Sterbebett galten ihre letzten Worte der so früh Verstorbenen. Noch in ihrem höchsten Alter hielt sie die Verbindung mit den verwaisten Kindern unter den größten Schwierigkeiten aufrecht. Der Tod Vaters traf sie auch schwer, ebenso viel Leid hatte sie um den Enkel Franz, der zwanzigjährig in Frankreich den Heldentod fand. Bei allen schweren Schlägen verlor sie jedoch den Mut nicht. Ungebeugt und voll Gottvertrauen nahm sie wieder ihr Tagewerk auf.

Meine Mutter war geistig äußerst rege und noch in ihrem hohen Alter die beste Rechnerin in der Familie. Das große Einmaleins beherrschte sie spielend. Die in ihrer Jugend gelernten Gedichte, darunter Schiller's "Glocke", vermochte sie noch fließend aufzusagen. Mit der Feder wußte sie gut umzugehen. Vor der sonst bei alten Leuten üblichen Scheu bei jeder Schreibarbeit war sie frei. Gewandt und treffsicher wußte sie jeden Brief zu beantworten. Abends fand sie immer noch Zeit, wenn auch nur für ein Viertelstündchen, die neuesten Nachrichten in der Tageszeitung zu lesen. Vater griff selten zur Zeitung, er begnügte sich mit dem, was Mutter ihm vorlas.

Mutter, die es mit der Ordnungsliebe nicht so genau nahm, die auch mal gerne eine fünf gerade sein ließ, hielt wohl sehr auf pünktliches Einhalten der Mahlzeiten. Über ihre Arbeit, auch oft außerhalb des Hauses, vergaß sie nicht, das Essen zeitig zuzubereiten. Dabei war das nicht immer leicht. Aus Wenigem verstand sie es, ein schmackhaftes Essen zu richten. Sie war eine echte Mutter, an sich dachte sie nie, das Geringste genügte ihr. Für uns Kinder war sie immer da, bei unseren kleinen Nöten wußte sie stets Rat und Hilfe.

Leider hatte ich nicht das Glück, meiner Mutter während der letzten Jahre nahe zu sein. Pfingsten 1944 waren wir zum letzten Mal zusammen. In diesem Jahr rückte der Krieg in unsere Heimat. Mutter mußte ihr Häuschen, in dem sie 80 Jahre lang gelebt hatte, verlassen. Mittellos, ohne die geringste Habe suchte sie ein Unterkommen in der Fremde. Als sie nach Jahresfrist zurückkam, stand sie fassungslos vor den Trümmern ihres kleinen Anwesens. Bei ihrem Sohn Christian lebte sie dann. Doch jeder Kirchenbesuch, bis zuletzt ließ sie sich nicht davonabhalten, führte sie an dem zerstörten Haus vorbei. Wie oft mag sie wehmutsvoll nach der Stätte zurückgeblickt haben, auf der sie geboren wurde, auf der sie als Kind spielte, die ihre Jugend sah und ihre spätere Heirat erlebte. Als sorgenvolle und doch glückliche Mutter schaltete und waltete sie hier in der Vollkraft ihrer Jahre. Sie sah ein Kind nach dem anderen seinen eigenen Weg gehen, bis sie als alte Frau allein stand.

Als ich im September 1948 aus der Gefangenschaft zurückkehrte, konnte ich meine Mutter nur noch am Grabe aufsuchen. Ende 1946 war sie verstorben. Ein Leben, dem ein gerüttelt Maß an Arbeit, an Sorge und Leid Sinn und Inhalt gegeben hatte, war zu Ende gegangen.

Aus meiner Kindheit und Schulzeit

Es gibt Leute, deren Kindheitserinnerungen in das vierte, sogar in das dritte Lebensjahr zurückgehen. Da bin ich etwas rückständiger. Meine früheste Erinnerung fällt mit meinem ersten Schultag zusammen. Ganz deutlich erinnere ich mich, daß ich während der Pause nach Hause lief, mich hinter dem Ofen versteckte und trotz der Vorstellungen meiner Mutter an diesem Tage nicht mehr zum Schulbesuch zu bewegen war. Am nächsten Tag brachte Mutter mich wieder hin. Es ging dann auch gut; der kleine Sohn hatte zum ersten Male gelernt, sich zu fügen. Nun vollzog sich der weitere Schulbesuch ohne Zwischenfälle. Das Lernen fiel mir leicht. Die Hausaufgaben waren im Nu gemacht. Mutter sah hin und wieder einmal nach, der Vater nie.

Unsere meiste Freizeit gehörte dem damals aufkommenden Fußballspiel. Mit voller Begeisterung jagten wir dem selbstgefertigten Ball nach. Aber auch die übrigen Kinderspiele wurden eifrig betrieben. Im Alter von 10 bis 11 Jahren mußte ich die Ziegen zur Weide treiben. Hierbei vergaßen wir das Spiel natürlich auch nicht. Ungetrübt verlief die schöne Zeit, bis die Schulentlassung die große Wendung brachte.

Im Dezember des Kriegsjahres 1917 wurde ich vorzeitig aus der Schule entlassen. Man brauchte Arbeitskräfte, auf die kleinste Hilfe griff man zurück. Mit 13 Jahren und 5 Monaten marschierte ich morgens um 6 Uhr zur Waggonfabrik Talbot, um mich in der Kunst des Lackierens zu üben. Meine Arbeit bestand darin, daß ich Eisenteile mit einer teerartigen Farbe bestrich. Es war eine anstrengende und schmutzige Arbeit, die mir bald zuwider war. Nach acht Wochen fand ich die Zustimmung der Eltern als Klempner und später als Drucker-Lehrling Aufnahme in der Rheinischen Metallwarenfabrik. Auf Veranlassung meines Vaters nahm ich nach einem Jahr als Metalldrucker bei der Firma Thomas Arbeit. Der Grund für diesen Wechsel lag darin, daß ich bei dem ältesten Sohn der Firma dann und wann in der Mittagspause im Trompetenblasen unterrichtet werden sollte. Nach Vaters Wunsch sollten alle seine Söhne musikalisch ausgebildet werden.

Von meinem ältesten Bruder war ich in die Anfangsgrundsätze des Violinspiels eingeweiht worden; mein Bruder Franz gab mir die erste Anleitung zum Blasen der Trompete. Die bei Wilhelm Thomas erhoffte weitere günstige Ausbildung blieb aus. Es kam nur zu wenigen Unterrichtsstunden, weil er fast ständig unterwegs war und später ganz aus dem Betrieb ausschied. Ich ging zurück zur Rheinischen Metallwarenfabrik und nahm Musikunterricht beim ersten Trompeter des Städtischen Orchesters in Aachen. 1922 wurde ich arbeitslos, nahm dann später bei der Bauverwaltung des EBV5 als Handlanger Arbeit. Vorübergehend versuchte ich mich auch als Maurer bei dem Hastenrather Baumeister Conrads. 1925 gab es wieder Arbeit bei der Rheinischen Metallwarenfabrik, die kurze Zeit später aber den Betrieb für immer schloß. Danach betätigte ich mich als Schlosser und Hilfsmonteur bei einer Montagefirma, die neue Anlagen auf der Gewerkschaft Zukunft ausführte. Auch das ging zu Ende.

Die wirtschaftliche Not wurde damals immer größer, die Arbeitslosenziffern gingen in die Millionen. Die Möglichkeit, einen festen Arbeitsplatz zu bekommen, wurden von Jahr zu Jahr aussichtsloser, mein Wunsch dagegen, eine gesicherte Stellung zu erreichen, immer brennender. Während der letzten Jahre hatte ich mich in der Musik soweit fortgebildet, daß ich es zu einer gewissen Leistung auf der Trompete gebracht hatte. Dem Rufe zweier Kameraden folgend, die den Weg vor mir gemacht hatten, bewarb ich mich um Aufnahme in die Kapelle des Infanterie-Regiments 18 in Münster in Westfalen. Das Probespiel nahm einen befriedigenden Ausgang, und so trat ich am 8. Oktober 1928 als Militärmusiker in das II. Bataillon des Infanterie-Regiments 18 ein.

Etwas aus meiner Soldatenzeit

Den Entschluß, Soldat zu werden, hatte ich aus zwei Gründen gefaßt. Ich wollte erstens vorwärts kommen, d.h. eine sichere Stellung haben, die mir auch die Möglichkeit späterer Verbesserung gab, und dann war es mein größter Wunsch, einem guten Orchester beizutreten. Beides bot sich mir nun.

Zunächst mußte ich in Detmold eine halbjährliche Ausbildung im Infanteriedienst durchmachen. Während dieser Zeit wurde mir nichts geschenkt, Es war eine harte, aber wertvolle Schule; sie bildete eine feste Grundlage nicht nur des militärischen, sondern des ganzen Lebens überhaupt. Neben dem harten Leben auf dem Kasernenhof lernte ich nun auch etwas von der Schönheit des lippischen Landes kennen, darunter den Teutoburger Wald mit dem Hermannsdenkmal, die Lippische Schweiz und das alte Paderborn. Zum erstenmal machte ich auch mit der berüchtigten, sandigen Senne Bekanntschaft.

Ostern 1929 traf ich in Münster bei meinem Stammtruppenteil ein. Es begann nun ein eifriges Musizieren. Die täglichen Proben unter der guten Leitung des damals in Westdeutschland sehr bekannten Obermusikmeisters Max Cellarius brachten die besten Erfolge. Der dazwischen fallende militärische Dienst nahm nicht viel Zeit in Anspruch und fiel mir nicht schwer. Im Winterhalbjahr nahm die Ausbildung im Nachrichtenwesen etwas mehr Raum ein. Im Herbst 1930 begann für mich der Besuch der Heeresfachschule. Von Oktober bis Mai währte der zunächst wöchentlich fünf Stunden umfassende Unterricht. Da es im Interesse jedes einzelnen lag, sich möglichst gründlich und fortzubilden, arbeitete jeder fleißig mit. Die mit Erfolg abgelegte Prüfung war entscheidend für die spätere Beamtenlaufbahn.

Der Beruf eines Militärmusikers bot gegenüber den Soldaten, die infantristischen Dienst machten, ohne Zweifel Vorteile. Für uns Musiker gab es aber auch Tage, die von jedem das Äußerste forderten. Vielfach begann unsere Arbeit, wenn andere sich dem Vergnügen hingeben konnten. Während der heißen Manövertage mußte jeder bei den täglichen Marschmusiken sein Bestes hergeben. Es folgten dann noch Platzkonzerte, Ständchen und Manöverbälle.

Cellarius war ein ausgezeichneter Geiger. So kam es, daß wir während der Wintermonate fast nur Streichmusik machten. Auf vielen Konzertveranstaltungen lernte ich wohl jede Stadt in Westfalen kennen. Nach Abzug der Besatzungstruppen führte uns manches Konzert auch in eine Reihe rheinischer Städte.

Der übliche Tagesverlauf begann in der Regel um 8 bis 9 Uhr mit der Probe, die von 11 bis 12 Uhr dauerte. Zwei Stunden standen jedem zum eigenen Studium zur Verfügung. Dazu kam eine Stunde Sport oder Schwimmen. Exerzieren mit Parademärschen fand gewöhnlich im geschlossenen Musikkorps freitags von 11 bis 12 Uhr statt.

Nach 1933 trat allmählich auch bei uns eine Änderung ein. In den Jahren 1934-35 wurden die Musikkorps der Wehrmacht immer häufiger in den Dienst der Propaganda gestellt. Sie sollten mit dazu beitragen, den jungen Deutschen die notwendige Begeisterung für den nunmehr zur Pflicht gewordenen Dienst im Heer, bei der Luftwaffe und der Marine zu bringen. Vom kleinen Ordnungsheer, der sogenannten Reichswehr, die einschließlich Marine 100.00 Mann betragen hatte, entwickelte sich die neue deutsche Wehrmacht. In kurzer Zeit überstieg sie das Vielfache dieser Zahl.

Von der Politik blieben wir zunächst verschont. Es kam im Gegenteil wiederholt zu stillen Gegensätzen, da verschiedene Herren der Partei glaubten, in die militärischen Dinge hinein reden zu können. In Punkto Anmaßung waren sie nie engbegrenzt und Hemmungen unterworfen. Militärische Aufmärsche, bei denen die Musik im wahrsten Sinne des Wortes die Hauptsache spielte, Platzmusiken, Winterhilfswerk-Konzerte (WHW) gab es am laufenden Band. Der große Zapfenstreich mußte immer wieder herhalten.

Eine große Änderung ergab sich, als unser Regiment im Zuge der Rheinlandbesetzung durch die deutsche Wehrmacht am 7. März 1936 seinen Standort von Münster nach Aachen wechselte. Das mir anfangs stur erschienene Münster war mir im Laufe der Zeit recht vertraut geworden, zumal ich nach meiner Verheiratung in der Stadt wohnte und dadurch mit mehreren Münsteraner Familien in nähere Berührung gekommen war.

In Aachen gab es zunächst behelfsmäßige Unterkünfte, Grenzsicherungen wurden ausgestellt, überhaupt viel hin und her gemacht und feste auf die Pauke geschlagen. Mit unserer militärischen Stärke war es damals noch nicht weit her, darum mußte umso mehr Lärm gemacht werden. Zu dieser Zeit zählte ich schon zu den älteren Soldaten. Ich wurde im Februar 1937 Feldwebel und hatte damit der Unteroffizierslaufbahn entsprechend den höchsten Dienstgrad erreicht. Alle verfügbare Freizeit war ausgefüllt mit eifrigem Studium. Die Jahre 1938-39 nutzte ich fleißig aus. Der Schulbesuch befriedigte mich, und mit Freude und Zuversicht sah ich dem letzten Dienstjahr entgegen. Das letzte Jahr war nur dem Besuch der Heeresfachschule vorbehalten. Im Oktober 1939 dachte ich mich, frei von militärischem Dienst und der Musiktätigkeit, ungestört der Schularbeit widmen zu können. Doch schon am 1. September brach der Krieg aus und warf alles über den Haufen. Es hieß für mich, die Bücher schließen und zunächst den Traum auf ein baldiges Wirkungsfeld als Beamter zu begraben.