Josef Eschbach:

Nicht allein wider den Strom

Zwölf besondere Jahre im Leben eines unbesonderen Menschen

Autobiografisches Manuskript von Josef Eschbach

Transkribiert, annotiert und herausgegeben von Haro von Laufenberg, 2018

Nutzungsbedingungen

Das Werk ist in allen seinen Bestandteilen urheberrechtlich geschützt. Der Download ist nur für die nichtkommerzielle Nutzung und im selben Medium gestattet. Sie dürfen die Inhalte privat und für die nichtkommerzielle Bildungs- und Vermittlungsarbeit verwenden. Darunter fallen neben der Lehre und der institutionellen Forschung auch Nutzungen bei der Erstellung von Unterrichtsmaterialien. Bei jeder Verwendung, einschließlich der Zitation, ist diese Webseite als Quelle anzugeben. Für weitergehende Nutzungen, insbesondere in anderen Medien und die Veröffentlichung von Teilen oder des gesamten Inhalts besteht ein Erlaubnisvorbehalt. Bitte kontaktieren Sie mich hierzu.

9. Warum ist Leid auf der Welt

p.103 An einem Sommernachmittag des Jahres 1983 fahre ich zum ersten Male nach vierzig Jahren wieder mit der Isartalbahn von München nach Pullach. Ich habe mich gefreut auf das Wiedersehen mit dem großen Haus und der Landschaft, in denen ich von November 1937 bis Juli 1939 und noch einmal während des Wintersemesters 1940/41 Philosophie studierte und die erste Gelübde ablegte. Eine Hitzeglocke hing über der Stadt. Hier draußen vertreiben der glutheiße Wind und die Schwüle eines nahenden Gewitters die Kinder von der Straße. Wenige Menschen hasten vorbei, von unaufschiebbaren Geschäften genötigt. Ich schreite den gewohnten, längst zugebauten Weg vom Bahnhof bis zum Berchmanskolleg hinab, bis die Umrisse des umfänglichen, viereckigen Gebäudes filigranhaft aus dem Dunst treten. Unwillkürlich verlangsame ich den Gang. Die Jesuiten haben das Haus aufgegeben, ihre Scholastiker studieren jetzt Philosophie in der Kaulbachstraße. Trotzdem bricht die Vergangenheit von überall her über mich herein. Es hat sich kaum etwas verändert in den Jahren. Ich gehe zur Pforte und stehe wie starr davor. Ich wandere an der Mauer entlang Richtung Wolfratshausen und blicke hinauf. Im ersten Jahr wohnte ich in dem großen Zimmer drüben auf der ersten Etage, für die letzten Semester bezog ich eine Einzelkammer im Dachgeschoß. Irgendwo wohnte auch Alfred Delp, 1944 im Zusammenhang mit dem Attentat vom 20. Juli in Berlin-Plötzensee hingerichtet1. Kein Mensch weit und breit. Niemand begrüßt den verlorenen Sohn,der für eine Stunde heimkehrt. Beklommen passiere ich das unverschlossene Törchen am Südende und wende mich dem Friedhof zu. Wie oft sind wir hier in der mittäglichen Rekreation2, während der hellen Jahreszeiten auch abends, zu zweit, zu dritt, mitunter zu sieben oder acht, wie es sich fügte, heftig gestikulierend, die Zeitläufte erörternd, und trotz des Unheils, das unübersehbar heraufzog, "schön jung". Es würde mich nicht wundern, wenn Erich Mattelé plötzlich hinter einem Strauch auftauchte und lauthals lachte. Er erscheint nicht. Er ist tot.

p.104 Der Gottesacker ist zweckdienlich angelegt, Grab an Grab, Kreuz neben Kreuz. Ein riesiger, bräunlich lackierter Christus an der Stirnseite schaut bäuerisch-derb und fast unbeteiligt von einem gewaltigen Holz aus auf das Geviert. Geruch von Vergessenheit und Vergänglichkeit weht mich an. Tod. Ende. Ich setze mich nachdenklich in Bewegung.

Tod? Ende? Die Toten in den ersten Gräbern wurden noch vor der Jahrhundertwende geboren, ich kenne sie höchstens beim Namen. Je weiter ich voranschreite, desto häufiger treffe ich auf Bekannte. Ein Kreuz trägt den Namen Rudolf von Moreau; er war mein Beichtvater, und wir gerieten uns regelmäßig in die Haare, weil ich mich schwer tat, wöchentlich zu beichten. Der Tote im nächsten Grab, Franz Xaver Müller, "Fixmüller", war 1939 Rektor. Ich sehe ihn noch in der Tür stehen, als wir Ende Juli 1939 ausrückten in die Türkenkaserne in München; er sprach uns Mut zu und winkte lange. Müller gehörte zum "Kreisauer Kreis" wie Alfred Delp und der Provinzialobere Rösch. Nicht weit entfernt ruht Karl Frank, damals Professor für Kosmologie und Biologie. Der hintersinnig-liebenswürdige Schwabe wirkte lebensfroh, fast barock. Er hegte nicht den geringsten Zweifel, daß Tiere in den Himmel kamen wie Menschen. Pater Schuster, Studienpräfekt, las Ethik; scheinbar unnahbar und skurril, steckte er voll kleiner, harmloser Bosheiten. Wer beim Eintritt in sein Zimmer "Grüß Gott" sagte, wurde mit "Guten Abend" empfangen; wer jedoch einen guten Abend. wünschte, fühlte sich mit einem betonten "Grüß Gott" zurechtgestutzt. An seinem Grab erinnere ich mich seiner Antrittsvorlesung, die er eigens für die Nachkömmlinge aus dem RAD hielt. "Meine Herren", erklärte er spitz, "wer sich mit Philosophie beschäftigen will, muß sich zunächst über den eigenen Standort schlüssig werden. Denn alles ist relativ. Ich behaupte: Welche Weltanschauung jemand vertritt, hängt davon ab, ob er genug; zu essen bekommt." Diese seine Ansicht konnte gewiß nicht als orthodoxe Lehrmeinung gelten; immerhin bewies sie, daß der Studienpräfekt kein lebensfremder Theoretiker war, sondern über gesunden Menenschenverstand verfügte. Eine Gräberzeile weiter stoße ich auf das Grab Erich Przywaras. In der Zeit des Noviziates hatten mich seine Verse zur Nachahmung angeregt, während der Pullacher Zeit begegnete ich dem zwerghaft kleinen, höchst lebhaften Denker zwei- oder dreimal persönlich.

p.105 Przywara fiel nicht nur wegen seines Wuchses, sondern auch wegen seiner Fistelstimme sofort auf. Wenn er seine Thesen servierte, duldete er nicht den leisesten Widerspruch. Er, von der Unwiderlegbarkeit seiner Gedankenführung zutiefst überzeugt, wirkte, als gäbe es nicht die geringste Berechtigung für eine abweichende oder gar gegensätzliche Meinung. In der sich anschließenden Diskussion stand nicht sein Denkansatz, sondern geradezu seine eigene physische Existenz zur Entscheidung. Jeder These schmetterte er, sie gleichsam untermalend, ein triumphierendes "voilà" hinterher; seine Augen wanderten umher und gestatteten nur, entweder voll zuzustimmen oder den Rückzug anzutreten.

Von seiner letzten Ruhestätte aufblickend, erkenne ich nicht weit entfernt das Grab Josef Kreitmaiers. Welch freundlicher Zufall! Ich fühle mich unversehens aufgeheitert. Zwar läßt sich ein krasserer Unterschied schwerlich vorstellen als der zwischen dem kühl distanzierten Oberschlesier Przywara und dem daseinsfrohen Kreitmaier; dennoch machten die beiden so Unterschiedlichen in einem Punkt gemeinsame Sache. Kreitmaier vertonte Texte Erich Przywaras. Natürlich handelte es sich um religiöse Lieder; deswegen sangen wir sie in der.Kapelle. Der sakrale Raum ließ nicht zu, daß wir zu den Liedern mit Händen und Füßen den Takt klopften; es reizte uns aber jedesmal wieder aufs neue. Denn sowohl Text wie Rhythmus waren sofort als Persiflage auf das aggressive Liedgut der Nazis erkennbar. Diese Zusammenarbeit nahmen beide Beteiligte gewiß nicht ernst.

Ich möchte die Gräber nicht zählen; ich schätze mehr als hundert. Je weiter ich vorgehe, um so mehr der Toten sind mir bekannt. Ihr Geburtstag liegt nahe dem meinen; eine nicht geringe Zahl ist jünger. Namen, die ich vermisse, entdecke ich später in dem oktogonalen Gedächtnistempelchen. Die Leiber vermodern auf irgendeinem Schlachtfeld, im Westen oder im Osten oder in Nordafrika. Ich nenne nur meinen ehemaligen Mitbruder Matthias Neumann aus Altrich an der Mosel, der bei meinem ersten Jungenbuch half. Er fiel 1941 auf dem Vormarsch in Rußland, als er längst aus der Wehrmacht ausgestoßen war; der entsprechende "Führererlaß" war ihm dreieinhalb Wochen nachgereicht.3 Scheu fahre ich mit der Hand über die erzenen Buchstaben.

Je dichter sich die Erinnerungen drängen, um so deutlicher wird mir, p.106 daß diese Begräbnisstätte mehr ist als irgendein dörflicher Gottesacker. Er scheint mir ein Spiegelbild des Jesuitenordens von der Jahrhundertwende bis in unsere Tage zu sein, die hier Bestatteten signalisieren ein Programm. Dieses Gräberfeld atmet nicht Tod und Ende, sondern ruft dazu auf, ein Erbe nicht zu verschenken.

Ich kam im November 1937 im Berchmanskolleg in Pullach an. Wie hatte ich mich gefreut, nach sieben Monaten des Ausgestoßenseins in eine Umgebung zurückkehren zu dürfen, die meinen Neigungen entsprach! Ich weiß noch, als ich damals die Stiegen an der Pforte gemessen hinaufschritt, beschäftigte mich die Statue des jungen Mannes, der oben stand. Das konnte nur Johannes Berchmans sein, nach dem das Haus benannt war. Er interessierte mich seit den Tagen, da mir eingefallen war, dem Orden beizutreten, dem auch er angehört hatte. Deswegen war ich nach Diest gefahren, seinem Geburtsort, keine hundert Kilometer von meiner Vaterstadt entfernt. Es liegt nahe der Autobahn von Maastricht nach Antwerpen. Zwar konnte mir keiner der Dörfler das Haus zeigen, in dem der Vater das Schusterhandwerk ausübte. Vermutlich waren die baufälligen Gebäude auch längst beseitigt; inzwischen waren mehr als dreihundertfünfzig Jahre vergangen. Trotzdem erschien Johannes Berchmans mir nach dem Besuch in seiner Heimat vertrauter. Wenn ich versuchte, mir ein Bild von ihm zu verschaffen, kamen mir die Figuren seines Landsmannes Felix Timmermans in den Sinn, die den lieben Gott loben mit einem Stück Speck im Mund. So wurde er mir lieber als die beiden anderen Jugendheiligen des Ordens, Aloisius von Gonzaga und der Pole Stanislaus Kostka; er kam mir menschlicher vor; Es gefiel mir, daß er, keineswegs ausgestattet mit überragenden geistigen Fähigkeiten, zusätzlich zu den Beschwernissen des Studierens Zeit fand, sich um Kranke zu mühen, Fiebernde in der Gluthitze des römischen Sommers zu betreuen und Sterbenden beizustehen. Ich verehrte ihn; er starb, kaum dreißigjährig, durch den mörderischen Einsatz, zum Skelett abgemagert. Das kam mir beim Anblick seiner Statue wieder in den Sinn.

Es fiel anfänglich nicht leicht, sich wieder an den Tagesablauf in einem Studienhaus zu gewöhnen. Zu den üblichen Schwierigkeiten kam hinzu, daß wir wegen der verspäteten Rückkehr aus dem Arbeitsdienst ziemlich viel nachzuholen hatten. Wer den Semesterbeginn p.107 in Pullach wegen des RAD versäumte, hatte einen zweiten Nachteil hinzunehmen. Alle, die nicht einberufen worden waren, konnten das Noviziat auf die übliche Weise beenden und die vorgesehenen ersten "zeitlichen" Gelübde ablegen; die Gelübde der Rückkehrenden wurden um ein halbes Jahr hinausgeschoben. Ich ahnte nicht im geringsten, wieviel Kummer mir das noch bereiten sollte.

Das dreijährige Philosophiestudium der Jesuiten erschöpft sich nicht darin, philosophische Richtungen und Denksysteme vorzustellen; reine Philosophie-Geschichte genügt ihnen schon gar nicht. Die Professoren in Pullach hatten ein eigenes, selbständiges System entwickelt, das sie im Verlauf eines Studienganges vor ihren Hörern ausbreiteten; es bezog selbstverständlich die jahrhundertealte jesuitische Tradition ein, ließ jedoch neue und neueste Erkenntnisse nicht außer Acht. Ihre Zusammenstellung war unter dem Titel "Mensch, Welt, Gott" auch als Buch erschienen. Besonders schwierig war es in den ersten Wochen, weil die Vorlesungen in den Hauptfächern lateinisch erfolgten. Jetzt zeigte sich, wie richtig es gewesen wer, daß im Noviziat soviel Wert auf die Weiterbildung in dieser Sprache gelegt wurde. Mit meinen Schulkenntnissen allein hätte ich Schiffbruch erlitten.

Obschon ich also nach Überwinden von Anfangsschwierigkeiten den Ausführungen leidlich zu folgen vermochte, begann ich frühzeitig, an meiner Eignung zum Philosophen nachhaltig zu zweifeln. War mir zwei Jahre zuvor meine mangelnde rhetorische Begabung deutlich geworden, plagte mich jetzt die Sorge, ob ich in der Philosophie am richtigen Platz war; ich hatte weder das Zeug zum Prediger noch zum Wissenschaftler. Ich tröstete mich mit meinen schriftstellerischen Fähigkeiten. Inzwischen hatte ich die Erzählung, zu der ich im Emmericher Krankenhaus angeregt worden war, zu Ende geschrieben. Pater Ludwig Fatzaun, dem ich sie für "Die Burg"4 anbot, durfte sie nicht drucken; die Reichsschrifttumskammer, für derlei Dinge zuständig, hatte konfessionellen Zeitschriften aus Schikane zur Auflage gemacht, ausschließlich religiöse Beiträge zu bringen. Seitdem erzählt Franz Seinsche in der "Burg" Meßdienergeschichten oder schilderte Abenteuer, die Jungen auf Wallfahrten erlebte. Man fragte sich, ob die Zensoren schliefen; denn wer die Sache durchschaute, grinste. Wahrscheinlich war es mit der Überwachung der Presse so wie bei anderen Behörden im Dritten Reich; p.108 die rechte Hand wußte nicht, was die linke tat.Pater Fatzaun empfahl mich einem österreichischen Verlag. Ab Februar 1938 wurde mein Erstling "Ein Junge findet heim" in der Zeitschrift "Christophorus" vorabgedruckt.

Dennoch hätte dieser unbedeutende und vor allem nicht dauerhafte Erfolg allein die Zweifel in mir nicht beseitigt. Mir mußte mehr gelingen, als Kinder und Jugendliche zu unterhalten. Ich wollte etwas schaffen, was Suchenden und Zweifelnden Antwort gab auf brennende Fragen des Lebens.

Was die Menschen in diesen Jahren am ärgsten umtrieb, war ihre Angst. Sie spürten, daß Bedrohliches auf sie zukam. Je ernsthafter man forschte, desto klarer ergab sich, wieviel Sorge, Niedergeschlagenheit, ja Untergangsstimmung sich ausgebreitet hatten. Niemals hatte Angst einer Zeit ihren Stempel so sichtbarlich aufgedrückt.

Damit stellte sich die Frage nach der Ursache für diese Stimmung. Warum empfinden Menschen Angst? Wahrscheinlich ist sie eine Grundbefindlichkeit, zum Wesen des Menschen gehörig, und bloß wegen der besonderen Unsicherheit der Zeitläufte hatte sie gerade jetzt überhand genommen.

Nun wäre es vornehmlich Aufgabe der Staatslenker, in solchen Zeiten Sorge dafür zu tragen, daß die tiefe Verstrickung der ihnen Überantworteten auf das mögliche Mindestmaß herabgedrückt wird. Dies gilt um so mehr, weil sich ihnen als den Verantwortlichen ein viel gründlicherer Vorausblick ermöglicht und sie in der Lage wären, gefährlichen Entwicklungen rechtzeitig die Spitze abzubrechen. Allein einmal bezweifelte ich, daß die in Deutschland Herrschenden überhaupt in der Lage waren zu erkennen, in welche Bestürzung ihre Forschheit und ihr Draufgängertum die Menschen bereits gestoßen hatten. Auf jeden Fall hätten sie Angst, wäre sie ihnen erkenntlich gewesen, abzwürgen versucht als eine undeutsche Charakterschwäche, der man nur entschieden genug entgegentreten müsse, und mit ihrem Geschwätz vom Herrenmenschen und den ihm angeborenen Machtansprüchen die Sorgen nur vertieft. Von ihnen also war Hilfe keineswegs zu erwarten.

In Zeiten der Gedankenverwirrung gebärden sich häufig auch sogenannte Wissenschaftler gern als Nothelfer. Aber bleiben ihre Antworten nicht fast zwangsläufig im Unverbindlichen stecken und p.109 mehren auf diese Weise die Unsicherheit?

In solcher Lage helfen nur eine grenzenlose Zuversicht auf ausgleichende jenseitige Gerechtigkeit oder die Dichter. Mir fiel der Satz Friedrich Hölderlins ein: "Was bleibt, stiften die Dichter." Ich hatte selber schon mehrere Male Trost erfahren aus Gedichten; Der Primaner saß entrückt am Indeufer, sich aufgenommen wähnend in den Bund derer "mit dem Stachel in der Brust". Gewiß, die Begegnung mit einem Gedicht vermittelt nur Ausschnitte von Trost. Könnte man aber in einer Geschichte nicht eine Grundbefindlichkeit des Menschen einfangen und dichterisch umsetzen? Einer Geschichte hört man bereitwilliger und unvoreingenommener zu. Man muß also versuchen, Angst zu "gestalten".

Der Einfall betäubte mich. Er verfolgte mich geradezu und verknäuelte sich zu einem Geflecht in meinem Kopf. Beginn und Ende manchen Fadens verwirkten sich in mir. Vieles griff ich begierig auf, ließ es indes geschwinder fallen, als ich es aufgehoben hatte. Mitten in einer Nacht, wie aus der Unergründbarkeit des Dunkels geboren, stand die Gestalt vor mir. Sie trat gleichsam bei mir ein, wie ein totgeglaubter, mir selbst unbekannter Bruder, wie ein Freund aus verschollenen Kindertagen. Ich nannte ihn Johannes Bürling. Mit dem wirklichen Namensträger hatte ich vor vielen Jahren gespielt. Der zweite Bürling, Kaplan in einer Großstadtpfarrei, nach Niederlagen mannigfachster Art, nicht zuletzt durch eigene Verletzlichkeit und zu geringe Widerstandskraft irre geworden an seiner Berufung, vermag sich der Anfechtung nicht zu erwehren, den an ihn gestellten Erwartungen nicht gewachsen zu sein. Er verläßt die Stadt und zieht sich in ein kleines Fischerdorf zurück, um Klarheit zu gewinnen. Die beiden am Leben Zerbrochenen, die er dort kennenlernt, der Bildhauer Paul Singer und das Mädchen Ev, stoßen ihn nur in noch mehr Verwirrung. Singer tötet Ev und nimmt auch sich selber das Leben. Angesichts der Toten bricht der Verstörte völlig zusammen. Größere Hoffnungslosigkeit ist nicht vorstellbar.

Zwar reichte der Plan für diese Erzählung nur bis zu dieser Stelle, doch ich brannte darauf, sofort mit dem Schreiben zu beginnen, damit die Bilder nicht verblaßten; ich bezweifelte nicht, daß mir der Rest frühzeitig genug einfiele. Aber, obschon mir die Darstellung von Bürlings Abstieg mühelos von der Hand ging ich ge- p.110 riet in Schwierigkeiten, als die Meisterung der Krise beschrieben werden mußte. Ich wußte nicht, wie ich Johannes Bürling aus seiner Ausweglosigkeit herausführen sollte. Ich verstrickte mich selber in immer mehr Ausweglosigkeit. Wahrscheinlich hatte ich meine Fähigkeiten überschätzt.

Schon länger plante ich, plante ich, wie vor einem Jahr in Leipzig mit Ida Friederike Coudenhove-Görres, jetzt mit Professor Carl Muth Verbindung aufzunehmen; er wohnte im Nachbarort Solln. Bereits 1898 als "Veremundus" wortgewaltiger Kämpfer im sogenannten katholischen Literaturstreit, zeigte er später in der von ihm begründeten und herausgegebenen Zeitschrift "Hochland"5 wie er Dichtung verstand. Noch war ich, zurückzuckend vor der Kühnheit des Unterfangens, nicht an die Verwirklichung des Vorhabens herangegangen. Jetzt fiel mir, als ich kleinlaut über meiner Novelle brütete, durch eine Fügung des Himmels das kleine Bändchen der Susanne M. Sorge in die Hand, "Reinhard Johannes Sorge, unser Weg". Die junge Frau schildert ihre Erlebnisse mit dem Eiferer und Dichter, der 1916 fiel. Im Nachwort berichtet Carl Muth, wie er den Jüngling ermunterte und zu dichterischen Höhenflügen bewegte. War es zu überheblich, wenn jetzt ich Muth bat, mir zu raten? Ich zögerte noch zwei, drei Tage. Endlich wählte ich ein paar Gedichte aus und schickte sie mit den Anfängen der Erzählung nach Solln. In den folgenden Tagen wartete ich gespannt.

Mit Beginn des Jahres 1938 neigte sich die erste Phase der nationalsozialistischen Terrorherrschaft deutlich dem Ende zu. Die Aufrüstung erreichte ein Ausmaß, das gestattete, die bisher geübte Rücksichtnahme abzubauen. Im eigenen Lande dominierte stumpfe Ergebenheit in ein Schicksal, an dem man nichts zu ändern vermochte. Die Beurteilung durch das Ausland war äußerst uneinheitlich. Der Sand, den die Olympiade vielen in die Augen gestreut hatte, wirkte noch nach. Zwar erschienen Maßnahmen der Nazis mit ihren immer noch leidenschaftlich geäußerten Friedensbekundungen unvereinbar, aber die öffentliche Meinung in den Nachbarländern verabscheute jedwedes kriegerische Geprotze so unnachgiebig, daß der deutsche Diktator in Ausnutzung dieses unübersehbaren Widerwillens um so leichteres Spiel hatte. Eins sollte man ihm am allerwenigsten nachsagen : Halbherzigkeit in der Verfolgung seiner Ziele. Man sollte sich auf einer Karte die deutsche Ostgrenze von 1938 an-p.111 schauen. Die höchst unglückliche Grenzziehung von 1919 mißachtete nicht nur den erklärten Willen der Österreicher, die mit Deutschland vereinigt werden wollten. Die sich weit in die Mitte des Reiches vorstreckende Tschechoslowakei mit den sudetendeutschen Gebieten und die Schaffung des polnischen Korridors wirkten auch auf keineswegs nationalistische Gemüter wie eine unerträgliche Herausforderung und mußten die wilde Gier von Maßlosen reizen, die die Sicherstellung des deutschen Lebensraums im Osten auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Als erstes sollte die zergliederte Grenze begradigt werden. Von März 1938 an vergewaltigten die Nazis jedes halbe Jahr ein weiteres Land Mitteleuropas und kamen so Stück für Stück ihrem Ziele näher.

Das erste Opfer wurde Österreich. Schon vier Jahre zuvor hatte der Diktator angenommen, er könne das Land wie eine reife Frucht vereinnahmen, nachdem es auf die "Heimholung" genügend vorbereitet worden war. Doch der Meuchelmord an Bundeskanzler Engelbert Dollfuß zeitigte das erwartete Ergebnis nicht. Die Deutschen scheiterten an ihrem Gesinnungsfreund Benito Musssolini; jetzt, 1938, brauchte keine Rücksicht mehr genommen zu werden, am wenigsten auf die Italiener, die inzwischen in eine demütigende Abhängigkeit geraten waren.

In den Februartagen weilte Kurt von Schuschnigg, der Nachfolger von Dollfuß, auf dem Obersalzberg und weigerte sich trotz massiver Einschüchterungsversuche, Nationalsozialisten an seiner Regierung zu beteiligen. Zu Hause bereitete er eine Abstimmung vor, in der das Volk über die Eingliederung entscheiden sollte. Die Nazis kamen ihm zuvor und ließen einmarschieren. Auf dem Heldenplatz in Wien meldete der "Führer" die Heimführung seiner Heimat in das Reich.

Die politische Entwicklung trieb mich um. Während der Nacht wurde ich in diesen Tagen ständig wach und vermeinte auf der Straße vor dem Kolleg den Marschtritt ziehender Kolonnen zu hören. Das war zwar eine Sinnestäuschung, denn wir befanden uns nicht an einer Durchgangsstraße. Dennoch dröhnte es in meinen Ohren und.in meinem Herzen wirklich. Zum ersten Male überschritt das Unrechtsregime deutsche Grenzen und überfiel Europa. Warum ist Unrecht, warum ist Leid auf der Welt? Warum werden die Völker in Prüfungen geführt?

p.112 Warum wird der einzelne Mensch in Prüfungen geführt, weswegen tut einer dem anderen ein Leid an? Auch mir persönlich wurde zu dieser Zeit ein ziemlicher Brocken auferlegt.

Wer von uns wegen der Einberufung zum Reichsarbeitsdienst die ersten Gelübde nicht, wie in der Ordensregel vorgesehen, am Ende des Noviziates hatte ablegen können, sollte sie im April nachholen. Nun erreichten mich von daheim seit geraumer Zeit bestürzende Nachrichten. Die Gemütsverfassung meines Vaters verschlechterte sich zusehends und nahm zeitweilig derartige Formen an, daß man ihn vorübergehend in eine Nervenheilanstalt überwies. Beim Lesen der mütterlichen Klagebriefe überwältigte mich ein unbeschreibbares Gefühl der Hilflosigkeit, das um so mehr bedrückte, weil ich in der Ferne zur Untätigkeit verdammt war. Natürlich hätte ich daheim nichts ändern können. Zwischen meinem Vater und mir hatten zeitlebens die innigsten Beziehungen bestanden, und ich hatte jene Abkühlung nie kennengelernt, die bestimmte Lebensalter befällt; sie lehnen sich auf gegen die Altvordern und die Sippe, weil ihn gründlich mißbehagt, was diese tun. Diese Entfremdung war bei mir nie eingetreten; jetzt empfand ich über die nie geschmälerte Zuneigung hinaus sogar noch mehr Liebe für meinen armen Vater, denn für mich stand fest, daß er im Grunde krank war wegen der Zeit und seiner Ohnmacht. Warum mußte er so leiden, der doch nichts auf der Welt haßte wie die Ungerechtigkeit? Am unversöhnlichsten stimmte mich, daß ich damit rechnen mußte, daß die Nazis aus seiner Krankheit in Kürze eine erbliche machen würden, wiewohl die Ärzte sie eindeutig als eine durchaus nicht unübliche Störung des Zentralnervensystems im sogenannten Rückbildungsalter diagnostizierten. Für das, was Behörden aus solchen Vorkommnissen ableiten konnten, gab es sattsam Beispiele.

Indessen zogen nicht die Nazis diese Folgerungen, sondern ausgerechnet die Jesuiten. Es traf mich wie ein Keulenschlag, daß sie, die sonst mit dem nazistischen Ideengut nicht das geringste gemein hatten, deren Erblehre beachteten. Da ich möglicherweise die Geisteskrankheit meines Vaters geerbt hatte, sollte ich besser nicht Jesuit werden! Pater von Moreau, der Spiritual, war auserkoren, mir mitzuteilen, daß meine Gelübde noch einmal verschoben wurden und ich mich einer fachärztlichen Untersuchung zu stellen habe. Dem leicht aufgedunsene, meist kränkelnden Mann mit der beunru- p.113 higten Stimme merkte man an, daß er die Information gern jemand anders überlassen hätte.

Ich fühlte mich verletzt. Die Vorsichtsmaßnahme wäre mir vielleicht erträglicher vorgekommen, hätte man das Gutachten über mich von einer Stelle angefordert, die einer angemessenen Beurteilung fähig war. Aber man schickte mich in die Praxis eines Psychotherapeuten, eines fortwährend lächelnden, untersetzten Mannes in mittleren Jahren mit einem Kinnbärtchen, der sich damit begnügte, mittels eines Silberhämmerchens meine Kniescheiben zu beklopfen. Außerdem forderte er mich auf, einfach Wörter aneinanderzureihen, die mir einfielen. Ich konnte mir die Frage nicht untersagen, ob es in meiner Lage ratsamer wäre, die Wörter völlig zusammenhanglos aufzuzählen, oder ob er vielmehr riete, durch möglichst umfangreiche Wortfelder und Querverbindungen unter Beweis zu stellen, daß mit meinem Verstand alles in Ordnung sei. Er grinste sibyllinisch. Ich beschloß demzufolge, ihn tunlichst mit beidem zu bedienen.

Als mir Pater Spiritual vier oder fünf Wochen später verkündete, die Nachforschungen daheim und der ärztliche Bescheid hätten ergeben, daß von einer erblichen Krankheit nicht die Rede sein könne und ich die Gelübde in Kürze ablegen dürfe, hätte ich auf atmen müssen. Doch ich fühlte mich ausgetrocknet und wie verraten. Meine Begeisterung für den Jesuitenorden erfuhr zum ersten Male eine arge Zerzausung, von der ich mich nie ganz erholte. Zweifellos habe ich den Vorgang überbewertet und die Beweggründe der Gegenseite zu wenig gewürdigt; wer wollte es verantworten, am Ende mit mir einen Geisteskranken wie einen Klotz am Bein zu haben? Aber wer mag es einem jungen Menschen verdenken, daß er sich nach diesen Vorkommnissen für einigermaßen ausgestoßen hielt?

Das Gefühl des Ausgestoßenseins überkam mich erneut an dem Morgen, an dem die Mitbrüder, die mit mir im Arbeitsdienst gewesen waren, ihre Gelübde ablegten. Ich nahm an ihrer feierlichen Hingabe in der Kapelle teil, irrte jedoch während des sich anschließenden Empfangs durch den Park. Es mutete mich an wie ein Fingerzeig, dass ich am Tag danach die Antwort Carl Muts in Händen hielt, auf die ich wartete. Er schrieb am 29. April 1938, genau vierzig Jahre nach Erscheinen seiner Kampfschrift "Steht die katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit?":

p.114 "Ihre Verse haben etwas, was mich aufhorchen machte. Da wir so nahe sind – könnten Sie mich nicht einmal besuchen? Wenn diese Worte Sie noch rechtzeitig genug erreichen – ich bin morgen, Sonntag den ganzen Nachmittag daheim. Ebenso am Mittwoch.
Mit freundlichem Gruß
Carl Muth"

Weil der Brief für einen Besuch am Sonntag zu spät eingetroffen war, wanderte ich mittwochs von Pullach nach Solln. Ich war mit Absicht zu früh aufgebrochen, um viel Zeit zum Nachdenken zu haben. Der Weg zwischen beiden Ortschaften lag um die mittägliche Stunde ruhig, kaum jemand war unterwegs. Es schien mir für die Jahreszeit noch zu kalt, Wind pfiff ungehindert um die Ecken. Ich hatte mir vom Bruder an der Pforte eine genaue Wegbeschreibung vortragen lassen, so daß ich gleichsam blindlings schreiten konnte, nur den Gedanken auf das Kommende hingegeben.