Josef Eschbach:

Nicht allein wider den Strom

Zwölf besondere Jahre im Leben eines unbesonderen Menschen

Autobiografisches Manuskript von Josef Eschbach

Transkribiert, annotiert und herausgegeben von Haro von Laufenberg, 2018

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8. Du bist nichts

p.88 Ignatius von Loyola gibt in seinem Exerzitienbüchlein "Regeln zur Unterscheidung der Geister" an die Hand. Wenngleich sie bereits für den Lesenden eine Fundgrube darstellen, bewähren sie sich erst in der praktischen Verwendung. Der Verfasser empfiehlt, sich nicht auf die Untersuchung vordergründiger Verhaltensweisen zu beschränken, sondern die Hintergründe zu erforschen, die ein bestimmtes Handeln verursachen. Zur Erprobung dieser wertvollen Ratschläge boten mir die sieben Leipziger Monate reichlich Gelegenheit, ich lernte nämlich die unterschiedlichsten Menschen kennen. Lothar Hanke schien mir nach den Erfahrungen mit ihm sofort eindeutig abgestempelt, zu einer gerechteren Beurteilung jedoch gelangte ich nach dem Besuch bei seinen Eltern in Halle. Zwar nach Kräften bemüht, seine Anbiederungen in den Wind zu schlagen, konnte ich Ende Juni seine ständigen Einladungen nicht mehr abwehren, wollte ich nach mehreren fadenscheinigen Vertröstungen nicht unglaubwürdig erscheinen.

Vater und Mutter, Fleischersleute von herkömmlichem Schlag, empfingen mich freundlich und erwartungsvoll zugleich. Lothars Schilderungen hatten unausweichlich ein einseitiges Bild von mir in ihnen erzeugt. Ich konnte nichts an ihnen aussetzen als ihre durch nichts eingeschränkte Rücksichtnahme auf alles, was ihren Sohn betraf. Sie gehörten zu jenen Erwachsenen, deren höchster Lebenssinn darin besteht, ihren Nachkommen ein leichteres Leben zu gewährleisten, als es ihnen gegönnt ist. Sie lasen ihm jeden Wunsch gleichsam von den Augen ab. Auf diese Weise gewöhnte er sich im Laufe der Jahre daran, alles als sein Eigentum zu betrachten und mit Beschlag zu belegen. Dadurch, daß sich das auch auf Menschen, vor allem weiblichen Geschlechts, bezog, wuchsen seine Ansprüche unermeßlich und seine Ausdrucksweise wurde rüde. Denn was ihm nicht wie eine reife Frucht von selbst in den Schoß fiel, bedachte er mit den heftigsten Anwürfen. So liebenswürdig die Eltern an sich sein mochten, sie trugen Schuld an dieser Entwicklung, weil in ihrem Erziehungskatalog der Begriff "Verzicht" ein p.89 Fremdwort war.

Schien Lothar nach solchen Erkenntnissen noch vergleichsweise leicht einzuordnen, bereitete mir die Einordnung der Ida Friederike Coudenhove-Görres erheblich größere Schwierigkeiten. Sie wohnte seit einiger Zeit in Leipzig und lud mich ebenfalls zu einem Besuch ein. Wie kam sie dazu?

Ich hatte einige Monate zuvor begonnen, an Dichter und Schriftsteller zu schreiben, die im katholischen Schrifttum einen gewissen Rang beanspruchten. Den Briefen legte ich eigene Texte bei und bat um Stellungnahme. Heute wundere ich mich über die Unbekümmertheit, mit der ich damals hoffte, daß solche Leute auf einen unbekannten jungen Mann eingingen und sich sogar der Mühe unterzogen, seine literarischen Versuche zu begutachten. Als sie tatsächlich antworteten, schmeichelte ich mir ob dieser Bevorzugung. Später erkannte ich, daß ihre Bereitwilligkeit weniger meiner Person galt als aus dem Bestreben stammte, ihre wenigen verbliebenen Einflußmöglichkeiten auszuschöpfen. Diese Leute, bis 1933 bekannt und geschätzt, in den ersten Jahren nach der Machtübernahme noch mehr oder weniger geduldet, wurden nun systematisch an den Rand gedrängt und auf die mannigfachste Weise mundtot gemacht. Etwa um 1937 sahen sie sich ihrer Wirkfähigkeit weitgehend beraubt. Von ihrer ehemals großen Gemeinde getrennt, nutzten sie gern jede Gelegenheit, die Hand zu ergreifen, die sich ihnen entgegenstreckte. Am rührendsten bewies mir das Ruth Schaumann, die schrieb: "Ihr Brief war mir eine Bestätigung, daß mein armes, wanderndes Herz doch manchmal einen erreicht, um den es sich bitterlich Sorgen macht."

Frau Görres hatte schon den Schüler interessiert. Die Ideen ihres Bruders, des Grafen Coudenhove-Kalergi, Gründer und Verfechter des Europa-Gedankens, begeisterten mich. Nun war seine Schwester keineswegs die mütterlich-gütige Poetin wie Ruth Schaumann; ihre Analysen religiöser Grundsituationen verrieten die gleicherweise scharfsichtige wie scharfzüngige Autorin. Ihre dickleibige Studie über Therese von Lisieux "Das verborgene Antlitz" zeigt noch heute unnachahmliche Meisterschaft, mehrere Auflagen ihrer "siebenfachen Flucht der Radegundis" zeugen von erzählerischen Qualitäten. Ich hatte ihr nach Stuttgart geschrieben. Wie freute ich mich, als ich ihre Antwort aus Leipzig erhielt, in der sie mich, statt p.90 einen langen Brief zu schreiben, in ihr Haus bestellte!

Unterscheidung der Geister. Ich erwartete, da ich ihre Bücher kannte, sowieso keine sanftmütige Gesprächspartnerin. Die Wirklichkeit überbot meine Vorstellungen. Die streng und eher männlich wirkende Gastgeberin empfing mich ausgesprochen feindselig. Wie sich später herausstellte, lag es daran, daß ich in der Uniform des RAD erschien Ich wollte nicht provozieren, aber ich besaß in Leipzig weder Zivilkleidung noch Soutane. Mein Auftreten in Uniform reizte sie, und sie ließ mich ihren Zorn spüren. Sie hasse zwar jede Uniformierung, gestand sie, aber diese Kleidung empöre sie in besonderer Weise.

Gegen meinen Willen und unbeabsichtigt geriet ich unversehens in die Rolle desjenigen, der etwas verteidigte, was er im Grunde selber nicht mochte.

"Verteidigen Sie nicht, was nicht verteidigt werden darf", verharrte sie unnachgiebig und scharf, "wenn schon Uniform, dann lieber sofort Jagdfliegeruniform! Sie geben zu, wozu sie auserkoren sind: Zum Töten! Dazu, unschuldiges Blut zu vergießen! Die Uniform, in der Sie anrücken, ist die Uniform der Lügner. Sie ist zu feige zuzugeben, was im Schilde geführt wird. In Wahrheit verfolgen alle das gleiche Ziel: Krieg." Ihre Erregung war nicht künstlich erzeugt, ihre Stimme klang verzweifelt.

Ich bemühte mich ihr zu erklären, daß wir zwar auch mit dem Spaten exerzierten, in der Hauptsache jedoch, wenigstens morgens, auf Baustellen tätig wären, wo wir Straßen bauten und Wälder rodeten. Ich merkte jedoch, daß sie nicht fähig oder nicht willens war, auf meine Vorhaltungen einzugehen. "Ich bleibe dabei. Sie geben ja zu, mit dem Spaten zu exerzieren; das zeigt, wie recht ich habe mit dem Vorwurf der Heuchelei. Sie sind ja ein überzeugender Beweis dafür, daß es ihnen gelingt, die wirklichen Absichten zu verschleiern. Vielleicht hält man es für erforderlich, vor dem Krieg noch ein paar Hindernisse in euren Seelen abzubauen."

Was sollte ich von ihr halten? Was hatte sich in dieser gescheiten Frau aufgestaut! Das war die unversöhnlichste Verurteilung der Nazis, die ich je gehört hatte. Aber mit dieser bedingungslosen Verdammung kamen wir nicht weiter. Ich hatte diese Uniform schließlich nicht aus freien Stücken angezogen. Dennoch unterstellte sie mir mit ihrer letzten Anschuldigung, ich ließe mich zu sehr vor p.91 den nazistischen Karren spannen.

"Sie sind überzeugt davon, daß sie den Krieg wollen?"

Wir saßen inzwischen um einen runden Tisch mitten im Zimmer. Von der Straße drang gedämpft Verkehrslärm herauf, in der Kurve quietschte eine Straßenbahn. Frau Görres blickte über mich hinweg und antwortete lange nicht. Dann nickte sie unglücklich, ihr schmales Gesicht fiel gleichsam auseinander. "Ja. Ich denke, sie wollen ihn. Machen Sie die Augen auf! Die Vorbereitungen laufen überall auf vollen Touren. Nur mit dem Krieg können die Verbrecher ihre Pläne verwirklichen."

"Manchmal meine ich, Rücksichtnahme auf das Volk und das Wissen um das unsagbare Elend, das mit einem Krieg über das Volk hereinbräche, könnten sie von ihrem Vorhaben abbringen."

"Was bedeutet ihnen das Volk?" widersprach sie heftig.

"Ich erinnere an ihren Spruch: 'Du bist nichts, das Volk ist alles!"

"Fallen Sie doch nicht auf ihre Phrasen herein!" riet sie, "das ist nichts als reine Augenwischerei. Es paßt so vorzüglich in ihre nationale Masche. Wenn es an der Zeit ist, erklären sie mit höchster Überzeugungskraft, um des Volkes willen müsse nun der Krieg geführt werden, weil es sonst von den gnadenlosen Gegnern übervorteilt würde. Daß der Krieg seit langem vorbereitet wurde, geht dann unter."

"Haben Sie sich nicht auch einmal zugunsten der Gemeinschaft ausgesprochen und damit gegen den einzelnen gewandt? Ich spiele an auf Ihren Aufsatz zur Volksmission." Mir fiel eines ihrer erfundenen Streitgespräche ein, die sie regelmäßig veröffentlichte. Diese Auslassungen hatten seinerzeit in unserem Religionsunterricht hitzige und widersprüchliche Meinungsäußerungen ausgelöst. Es ging um die in der katholischen Kirche übliche Einladung zu den sogenannten Volksmissionen: "Rette deine Seele!" Diese Aufforderung findet man bis heute auf Kreuzen, die anläßlich einer derartigen religiösen Bußwoche aufgestellt wurden. Ida Friederike Görres behauptete, dieser Satz sei in höchstem Grade unchristlich, und zwar wegen des besitzanzeigenden Fürworts "deine"; der Christ dürfe sein Heil nicht egoistisch für sich allein suchen.

Sie wirkte angesichts dieses Einwands zum ersten Male gelockert und fühlte sich keineswegs angegriffen wegen meines Vergleichs, p.92 der doch, wäre er zutreffend, sie in eine gefährliche geistige Nähe mit denen gebracht hätte, die sie verabscheute. "Ich bin Ihnen dankbar", sagte sie, "daß Sie diesen Artikel zur Sprache bringen. Sie sind nicht der erste, der mich seinetwegen anspricht. Es ist mir lieb, daß ich das zurechtrücken darf. Denn auf diese Weise erhellt sich der grundlegende Unterschied, der mich von den Nazis trennt. Ich vertrete heute noch die Auffassunfg von damals. Die Bemühung ausschließlich um die eigene Seele hilft uns Christen überhaupt nichts, wenn sie nicht einhergeht mit der Fürsorge für den Nächsten. Denken Sie an die Antwort, die Jesus von Nazaret erteilt: 'Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!' Hier darf man um Gottes nichts verwechseln; den Nazis geht es nicht um den Nächsten. Ihnen geht es niemals um den einzelnen. Sie suchen sich einen Begriff, an den sie sich klammern und der am Ende für alles herhalten muß. In Wirklichkeit ist ihr Geschwätz von Volk und Volkssolidarität Betrug und Mittel zum Zweck."

Ich vermochte mich ihrer wohlüberlegten Analyse immer weniger zu verschließen; sie war ebenso schrecklich wie einfach. Nie wurde eine so schonungslose Offenlegung der nazistischen Pläne vor mir ausgebreitet wie von dieser Frau. Wenn sie jedoch recht hatte, standen uns fürchterliche Zeiten bevor. Eine Woge von Besorgnis und Ohnmächtigkeit überflutete mich. War es zu spät, die Fahrt in den Abgrund zu bremsen? Warum ließen ausgerechnet wir Jungen uns hinters Licht führen, wo das Schreckliche am Ende doch auf unserem Buckel ausgetragen wurde? Bereits einmal war bei Langemarck eine Generation verheizt worden. Ich fand keine Antwort auf die Frage, warum wir alle uns passiv verhielten, obschon doch einige vorgaben, sie ahnten, was kam. Luden wir damit nicht Schuld auf uns? Reichte innerer Widerstand aus? Mit der Bekundung unversöhnlicher Gegnerschaft allein war dieses Regime nicht aus den Angeln zu heben.

Aus dem Nachmittag mit Ida Friederike Görres wurde allmählich Abend. In dieser Frau saß ich wahrhaftig einer typischen Repräsentantin des anderen Deutschland gegenüber, das sich um keinen Preis der Welt mit den Herrschenden identifizierte. Aber ich kann auch ihr den Vorwurf nicht ersparen, daß sie es bei verbalem Protest beließ.

Noch einmal durfte ich bei Ida Friederike Coudenhove-Görres zu p.93 Gast sein, im August oder Anfang September. Sie duldete inzwischen meine Uniform. Andererseits blieb sie bis zuletzt die kühle und Wort für Wort abwägende Gesprächspartnerin, die trotz erkennbarer Sympathie gewisse Schranken menschlichen Zueinanders niemals übersprang. Bei bestimmten Formen der Konvention ließ sie nicht mit sich rechten sic!. Ich mußte lachen über ihre Empfindlichkeit, als ich ihr den Bericht aushändigte, der im "Leuchtturm" über meinen Besuch bei ihr erschienen war; ihr mißfiel gründlich, daß ich respektlos von "der Coudenhove-Görres" redete. Natürlich sah ich ihr diese geringfügige und verständliche Eitelkeit nach; ich schätzte sie, weil sie sagte, was sie dachte. Man wußte jedenfalls bei ihr, wo sie stand.

Das war bei Josef Redzcynaskis Freundin Kathi ganz und gar nicht der Fall. Was er von ihr berichtete, gab Anlaß zu der Vermutung, daß sie wankelmütiger Gesinnung war. Nach seinen Darstellungen litt er nicht nur unter ihrer Eifersucht, sondern auch an ihren Launen und ihrer Unberechenbarkeit. Ich hatte beiden schon das eine und andere Mal aus der Patsche geholfen, nicht, weil er katholisch war, sondern wegen seiner Tollpatschigkeit. Als er an diesem Wochenende ins Lager zurückkehrte, vertraute er mir an, daß Kathi ein Kind erwartete. Sie hatten sich stundenlang in den Haaren gelegen. Sie verlangte die Heirat, Josef wehrte sich mit Händen und Füßen. Mehr als die Bürde mit Frau und Kind scheute er das Angekettetsein an das sprunghafte Geschöpf. Er beschwor seine Freundin, ihre Zukunft nicht zu belasten und abzutreiben. Sie widersetzte sich. Nun hockte er wie ein Häufchen Elend auf dem Bettrand. Ich brauchte ihn nicht zum Reden zu ermuntern, es schoß aus ihm heraus wie ein Wasserfall. "Sie setzt mir die Pistole auf die Brust", jammerte er. "Sie sagt, wir heiraten, oder sie bringt das Kind und sich um."

Heiliger Ignatius von Loyola! Wie sollte mir in diesem Falle die rechte Unterscheidung der Geister gelingen? Josef brauchte nicht in mich zu dringen, um meine Meinung zu hören. Abtreibung ist Mord. Doch der junge Mann, der sich bisher so gut wie in allem mir gefügt hatte, bewies in diesem Punkte eine bemerkenswerte Halsstarrigkeit. Weder die drohende Strafe, die bei Bekanntwerden einer Abtreibung äußerst hoch ausfiel, noch der Hinweis auf einen beabsichtigten Mord verfingen. Er besitze eine zuver- p.94 lässige Adresse, erwiderte er, wegen der Behörde brauche er demnach nichts zu fürchten. Was meine Ansicht über Abtreibung abgehe, sei sie wohl hoffnungslos altmodisch.

Und Kathi? Ich konnte mir kein Urteil erlauben, ob sie ihren willensschwachen Freund bloß unter Druck setzte oder ob man ihre Ankündigung ernstzunehmen hatte. Hätte ich mich nur direkt mit ihr in Verbindung gesetzt! Statt dessen sagte ich zu Josef: "Ich will mit dir nicht darüber streiten. Solange du das Kind töten willst, brauchst du mit mir nicht zu rechnen."

Zwei Wochen nach dieser Verweisung bereute ich, ihm nicht eindringlichere Vorhaltungen gemacht zu haben. Während des sonntäglichen Mittagessens im Pfarrhaus wurde ich ans Telefon gerufen; Redzcynaski sprach am anderen Ende der Leitung. Ob ich abkömmlich sei, wollte er von mir wissen; ich spürte Erregung in seiner Stimme. "Es ist etwas passiert. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll."

Später standen wir in der Barackensiedlung im Südwesten der Stadt vor Kathis Leiche. Der Körper war verkrümmt und das Gesicht verzerrt. "Wir haben noch zusammen gefrühstückt", stotterte die Mutter, aufgelöst, reichlich ungepflegt, mit strähnigem, fettigem Haar. "Warum hat sie mir nicht anvertraut, was sie plante?" Sie redete durcheinander, vom Hundertsten ins Tausendste kommend, wie es die Gewohnheit der kleinen Leute ist, wenn ihr Redeschwall einmal in Fluß geraten ist. Ein leeres Röhrchen, in dem Schlaftabletten aufbewahrt worden waren, lag auf der Erde.

Wer hatte diese Unglückliche getötet? Natürlich hatte sie in ihrer Ausweglosigkeit selber Hand an sich gelegt. Reichte diese vordergründige Auskunft jedoch aus, die das Ausmaß der Selbstvernichtung nicht einmal annähernd erfaßte? Wer dieses unreife, unvernünftige Wesen nur ein bißchen kannte, mußte einräumen, daß man ihr allein auf keinen Fall die gesamte Schuld aufbürden durfte. Sie fühlte sich dem Manne, mit dem zusammen sie ein Kind zeugte, so unwiderruflich ausgeliefert, daß ihr Leben den Sinn verlor, als er die Heirat verweigerte und die Tötung des Ungeborenen von ihr verlangte.

Traf demnach ihn die Verantwortung? Redzcynaski verharrte immer noch wie ausgelöscht neben mir. Jetzt warf er sich, hemmungslos schluchzend, über den Hocker und vergrub das Gesicht in beide Hän- p.95 de. Er konnte sich nicht damit herausreden, er sei ahnungslos gewesen. Sie hatte ihn öfter, als ihm paßte, auf ihre Absicht hingewiesen. Auch die Ausrede, er habe ihr dieses letzte nicht zugetraut, brachte keine Entlastung. Trotzdem bedeutete es Heuchelei, ihn dafür zu tadeln, daß er Kathi in diese Lage versetzte. Er besaß in ganz Leipzig nicht einen einzigen Menschen, der es gut mit ihm meinte. Nachdem er dieses Mädchen kennengelernt hatte, gaukelte ihm ihr Zusammenleben einige Monate lang Glück und Geborgenheit vor.

Selbst die Mutter der Selbstmörderin konnte man nicht ganz ausnehmen, sie trug ebenfalls einen gewissen Anteil an Schuld. Sie war zwar imstande, ein Geschöpf wie Kathi in die Welt zu setzen, jedoch völlig unfähig, es vorzubereiten auf das, was das Leben bereithielt. Je länger ich die Redselige beobachtete, um so deutlicher begriff ich, wie fragwürdig Schuldzuweisungen auch ihr gegenüber waren.

Wer war letzten Endes verantwortlich? Ich durfte mich nicht einmal selber freisprechen. Es hätte durchaus in meiner Macht gelegen, mich nachhaltiger um die beiden zu kümmern. Mir war bekannt, wie brüchig das Verhältnis zwischen den Liebenden geworden war.

"Wir benötigen einen Arzt", drängte Kathis Mutter. "Er muß einen Totenschein ausstellen. Von ihm hängt es ab, ob auch die Polizei benachrichtigt wird." Sie zündete eine billige Talgkerze an und bekreuzigte sich mit einer fahrigen, abgebrochenen Bewegung, wie es bei Menschen üblich ist, die längst der religiösen Gepflogenheiten ihrer Kinderzeit entwöhnt sind. Der stinkige, schwärzliche Kerzenrauch stieg schlangenförmig nach oben, die Todeskammer in Dunst hüllend.

Ich schaute die Leiche gedankenverloren an, nachdem wir sie ein wenig zurechtgelegt hatten. Jetzt ruhte Kathi fast ergeben da, bis ans Kinn mit einer schäbigen Wolldecke verhüllt. Es bewegte mich, wie Josef mit einer scheuen, verunglückten Berührung ihre Wange streifte, als wolle er im nachhinein Vergebung erbitten für das ihr Angetane. Er richtete glanzlose Augen auf mich, geschüttelt von unregelmäßigen Aufwallungen seines Körpers. "Ich weiß wohl", sagte ich mitleidig, "du hast nicht erwartet, daß es so endete. Du hast dich in ihr getäuscht. Wir täuschen uns niemals p.96 so folgenschwer wie bei denen, von welchen wir annehmen, daß sie uns bis in die äußerste Herzensfalte vertraut wären. Kathi hatte den Mut verloren und den Sinn ihres Lebens."

Es nutzte im Augenblick nichts, ihn zu trösten. Seine Überlegungen drehten sich im Kreis, er sah selber nicht mehr klar. Wer Stunden solcher Ausgeliefertheit unbeschadet hinnehmen soll, benötigt einen Glauben, der Berge versetzt. Josef Redzcynaski verfügte zwar über einen katholischen Taufschein, aber sein Glaube drang nicht in die Tiefe. Kathi und ihre Mutter waren ebenfalls katholisch; es hatte das Mädchen nicht vor dem Selbstmord bewahrt. Als ich sie vernichtet daliegen sah, fiel mir wieder der Satz ein, den ich bei Ida Friederike Görres erwähnt hatte: "Du bist nichts, das Volk ist alles." Angesichts der Leiche, angesichts von soviel Erniedrigung und Erbärmlichkeit schien mir der erste Teil zu stimmen. Was ist der Mensch in Wahrheit? Nichts! Freilich wird mit der Anerkenntnis dieser Teilwahrheit die Schlußfolgerung der Nazis, der Bezug auf die Masse von hilflosen Existenzen, nicht im mindesten gerechtfertigt. Schließlich bleibt die Summierung von Ohnmacht am Ende immer noch Ohnmacht.

Unsere Vorgesetzten im Lager nahmen die Vorgänge um Kathis Freitod wie ein Alltags-Ereignis auf. Nur wenigen schien Josefs Verwirrung eines flüchtig hingeworfenen Beileids wert. Für den Nachmittag, an dem die Beisetzung stattfand, bekam er nur mit Mühe dienstfrei. Ich ließ ihn auf diesem schweren Gang nicht gern allein, doch benötigte ich für den kurzen Urlaub die Einwilligung des Lagerleiters persönlich.

Der Zusammenstoß mit Zugführer Hans Schneider ereignete sich am Nachmittag nach Kathis Bestattung, genau vier Wochen vor dem festgesetzten Ende unserer Dienstzeit. Wiewohl sich das Verhältnis zwischen uns abgekühlt hatte, waren wir darauf bedacht geblieben, Themen auszulassen, die Zündstoff bargen. Ich glaubte zwar zu merken, daß er von den ursprünglichen Plänen einer Elitebildung innerlich abgerückt war; man munkelte von einer bevorstehenden Beförderung und von seiner Versetzung in ein Lager nahe dem mit Hochdruck wachsenden Westwall. Doch gehörte er zu den Menschen, die Niederlagen noch mit äußerster Kraftanstrengung bestreiten, wenn sie für alle Wissenden längst offenkundig sind. Vielleicht hatte er, der sich mir gegenüber nur von seiner gewinnenden Seite p.97 gezeigt hatte, nach den "Regeln zur Unterscheidung der Geister" indes wie jeder andere Sterbliche die berühmten faustischen "zwei Seelen" besaß, sich ausgerechnet an diesem Tage entschlossen, weiterhin nicht auf mein Einschwenken zu setzen, sondern den Widerpart zu spielen und mir darzutun, daß er auch anders konnte. Jedenfalls verbiß er sich während des Unterrichts in die These vom berechtigten und unverzichtbaren Anspruch des deutschen Volkes auf Lebensraum im Osten, daß auch dem Unaufmerksamsten die Verhärtung der Stimme und die völlig veränderte Grundhaltung auffallen mußten.

Nun war dieses Thema keineswegs so neuartig, daß sich unser Aufeinanderprallen unvermeidbar an ihm entzünden mußte. Der Diktator selber hatte diese Ideen in seinem Buch aus der Feste Landsberg entwickelt, und es ließ sich leicht in jedem Geschichtsbuch nachlesen, daß nur genügend. Lebensraum im Osten den Deutschen die Freiheit des Daseins sicherte. Man wolle den "ewigen Germanenzug" nach Westen und Süden stoppen und nach Osten richten. Ja, man verwarf die "Kolonial- und Handelspolitik" der Vorkriegszeit ausdrücklich, um sie abzulösen durch die "Bodenpolitik der Zukunft". Ich hätte Schneider also bei der Verteidigung dieser These im lnteresse weiterer Harmonie in Ruhe lassen können.

Aber ich erkannte die Abkehr von seiner bisherigen Beweisführung und damit deutliche Spitzen gegen mich. Außerdem versagte ich es mir stillzuhalten angesichts der Rücksichtslosigkeit, mit welcher der Zugführer die Ansprüche der Völker abwertete, die durch das beabsichtigte Vordringen der Deutschen notwendigerweise in Mitleidenschaft gezogen wurden, vor allem die Polen. "Man braucht sich bloß die Landkarte anzusehen", sagte er und wies auf den im Versailler Vertrag an Polen gefallenen Korridor, "um zu begreifen, was geplant war. Man wollte uns einschnüren und zusammenpferchen. Wir haben vor der Geschichte die Pflicht, zurückzuholen, was uns gehört."

Ich meldete mich. "Aber die Menschen, die dort wohnen! Sie sprechen von dem Recht auf Lebensraum. Haben sie nicht das gleiche Recht wie wir?"

Mir schien, er hatte meinen Einwand gewünscht. Nie erlebte ich Hans Schneider so unbeherrscht, soauf Konfrontation aus wie an diesem Nachmittag. "Von wem sprechen Sie überhaupt", versetzte p.98 er verärgert, "doch nicht von den Polen?"

An diesem Punkte wurde ein Zurückweichen unmöglich. Die Behutsamkeit, mit der wir uns geschont hatten, erwies sich am Ende als unnütz und führte zu nichts. "Natürlich von den Polen", erwiderte ich unerbittlich, "von wem sonst? Behaupten Sie am Ende, es gäbe zweierlei Menschen?"

Er lächelte abschätzig, als halte er es für eine Zumutung, sich mit jemandem zu ubterhalten, der unfähig war, Zusammenhänge zu erkennen. "Ich begreife nicht, wie man sich für Polen verwenden kann. Das sind doch keine Menschen. Das sind Untermenschen; Angehörige einer minderwertigen Rasse. Hören wir nicht täglich, wie sie unsere Landsleute in ihrem Herrschaftsbereich behandeln? Das scheint mir das Schandbarste am Versailler Diktat, daß er Untermenschen Gewalt einräumt über Herrenmenschen. Wenn die Geschichte eine derartige Verdrehung zuläßt, muß sie korrigiert werden."

Obgleich der politische Unterricht sonst meistens Langeweile erzeugte, diesmal bewirkten Schneiders unverblümte Deutlichkeit und seine unverkennbare Erregung auch in weniger leicht Erschütterbaren eine Art von Spannung. Daß ich ihm an diesem Nachmittag zusetzte, sorgte für zusätzliche Aufmerksamkeit. Der nachgeborene Leser könnte vermuten, in solcherart Gedankenverwirrung, wie der Zugführer sie an den Tag legte, hätten sich 1937 nur Überspannte und berufsmäßige Nachbeter befunden. Das Gegenteil trifft zu. Die ständigen Nachrichten von Gewalttaten und Übergriffen der Polen in Presue und Rundfunk, ihre Aufbereitung und Begründung durch die verrückte Rassentheorie gehörten so zur Propaganda des kleinen Doktors, daß sie sich mehr und mehr in den Hirnen beschränkter Geister festbohrten. Das deutsche Volk wurde regelrecht auf die geplanten Ereignisse vorbereitet. Wer die Aussagen des unbedeutenden Zugführers Schneider für ungeheuerlich hält, sollte nachlesen, wie der Mann an der Spitze urteilte. In seiner Rede vom 1. September 1939, in welcher er den Überfall auf Polen reschtfertigte, bewegte er sich in den gleichen Ungereimtheiten wie Hans Schneider 1937 in Leipzig.

Durfte man dazu schweigen? "Für mich bsitzen die Polen denselben Wert wie die übrigen Völker", erklärte ich. "Sie wollen deswegen die Geschichte korrirgieren?"

p.99 "Deutschland muß dem Lebensraum erhalten, den es benötigt", antwortete er unberührt, "wenn nicht durch die Einsicht und mit dem Einverständnis der Betroffenen, dann mit Gewalt."

"Gewalt heißt gegebenenfalls Krieg?" Ich erinnerte mich des Gespräches mit Frau Görres.

"Zimperlichkeit hat bei geschichtlichen Entscheidungen niemals Pate gestanden."

"Zimperlichkeit" nannte man das also im neudeutschen Sprachgebrauch. Der Zugführer hatte jedwede Rücksichtnahme, die er bis zu diesem Augenblick mir gegenüber an den Tag legte, mit unwiderruflicher Entschlossenheit beiseitegechoben. Fast gewann ich den Eindruck, daß er sich über Gebühr und gegen seine Absicht in einen Zorn steigerte, der die Brücken zueinander abbrach, wie wir es häufiger machen, wenn wir spüren, daß ein als notwendig erkannter Trennungschnitt nicht mehr hinausgeschoben werden kann. Dieser Mann hatte vor ein paar Monaten Gemeinsamkeiten gesehen zwischen uns, weil wir beide Ideale hätten und uns für sie einsetzten. Jetzt bestand kein Zweifel mehr. Was Schneider vertrat, waren keine Ideale. Er vertrat reine Machtpolitik, die Überzeugung, daß das Recht auf der Seite des Stärkeren ist. Für mich wird Gerechtigkeit noch lange nicht unbedingt von den stärkeren Bataillonen hergestellt und gesichert.

Aber glaubte dieser intelligente Mensch wirklich an das, was er proklamierte? Oder gehörte er, mürbe geworden durch die unablässige Berieselung, zu jenen Verblendeten, die nach vier Jahren Faschismus eigenes Urteilsvermögen aufgegeben hatten und ihre Ansichten von der Stange bezogen? Heiliger Ignatius! Bei keinem meiner Weggefährten fiel mir die Anwendung deiner "Regeln zur Unterscheidung der Geister" so schwer! Vielleicht kannte man zu deiner Zeit solcherart Zwiespältigkeit noch nicht, wie sie sich in diesem jungen Naziideologen offenbarte, und konnte deswegen auch Unterscheidungsregeln nicht ausarbeiten.

Überzeugt von der Nutzlosigkeit weiterer Auseinandersetzungen, hätte ich die Unterhaltung von mir aus abgebrochen. Indessen war Schneider nicht geschaffen, sich mit einem halben Sieg und einer halben Niederlage abzufinden; er wollte mich umdrehen oder kirre machen. "Warum wollen Sie nicht einsehen, daß Sie auf das falsche Pferd setzen?" fragte er heiser. "Sie können für die Polen ein- p.100 treten, wie Sie wollen, das Rad der Geschichte wird über sie hinwegrollen. Sie machen sich doch etwas vor, wenn Sie das nicht wahrhaben wollen. Die Zukunft gehört uns. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Er wird es spüren. Ich bin traurig Ihretwegen. Wir brauchen Gleichgesinnte, die mit uns im Gleichschritt marschieren."

"Ich bin nicht unbedingt für Gleichschritt."

Schneider entschuldigte sich zwar noch am Abend für die unvermittelte Heftigkeit seiner Ausfälle. Wie viele Menschen durchrannen auch ihn im gleichen Zeitpunkt zwei entgegenläufige Gefühlswallungen. Auf der einen Seite mochte er mich und trachtete danach, mich von meinen seiner Ansicht nach zukunftslosen Grundsätzen zu lösen und in sein Fahrwasser zu lenken. Anderseits befand er sich bereits so ausweglos in geistiger Abhängigkeit von der Zeitströmung, daß er aus Gefolgschaftstreue eher einen Freund preisgegeben hätte, als daß er von seiner Haltung abgerückt wäre.

Daß er trotz seiner Verbohrtheit im Kern ein Suchender war, der es sich nicht leicht machte, bewies der Briefwechsel, den wir auf seinen Wunsch hin noch fast zwei Jahre miteinander führten. Er nannte diese Briefe fröhlich unseren "Dogmenstreit". Er bemühte sich weiterhin, mich von der Richtigkeit seiner Auffassungen zu überzeugen. Ohne äußerlich erkennbaren Grund jedoch teilte er mir am 2. April 1939 mit, daß er die Korrespondenz mit diesem letzten Schreiben beenden wolle. Ich habe seinen Brief aufgehoben. Er schrieb: "Der Sinn meines Briefwechsels mit Ihnen – ich kann es ja jetzt zugeben – bestand darin, Ihre Bindungen an den Katholizismus und an den Jesuitenorden zu durchschneiden. Ich weiß heute, daß mir das nie gelingen wird. Sie sind zu stark verpflichtet. Ich bedauere dabei, daß so wertvolle Kräfte unserem Vaterlande verlorengehen, um sich in den Dienst einer überstaatlichen Macht zu stellen. Nachdem mir das aufgegangen ist, halte ich auch eine lockere Bindung von Mensch zu Mensch für unangebracht. Der Totalitätsanspruch Ihres Ordens verbietet das. Wir beide sind Menschen, die ein Ziel haben und dafür leben. Alles übrige muß demgegenüber zurücktreten."

Ich konnte bis heute nicht in Erfahrung bringen, was aus dem damaligen Zugführer Hans Schneider wurde. Vor allem würde mich in- p.101 teressieren, ob ihm das Widersinnige und Verbrecherische des Nazimus nicht eines Tages von allein aufleuchtete. Vielleicht mußte er den eingeschlagenen Weg bis zum bittern Ende gehen und das Leben opfern für das, was er für richtig hielt. Vielleicht überlebte er. Ich erwähnte, daß er aus Chemnitz stammte; es heißt heute Karl-Marx-Stadt. Wenn er in seine Heimat zurückkehrte, kann ich nicht ausschließen, daß er sich drüben übergangslos für die neue Gesellschaftsordnung erwärmte, weil sie totalitär ist wie der Faschismus. Er bräuchte nichts Entscheidendes zu ändern. Statt "Du bist nichts, dein Volk ist alles" müßte er bloß "Die Arbeiterklasse ist alles" verkünden.

Als Entlassungstag aus dem Reichsarbeitsdienst stand seit langem der 27. September fest. Wenige Tage vorher betrat zu unserer größten Überraschung Oberfeldmeister Kurt Mirus die Mannschaftsbaracke; er hatte sich während des gesamten Halbjahres dort nicht sehen lassen. Die Neuigkeit, die er zu vermelden kam, schien selbst ihm so gewichtig, daß er sie persönlich vorzutragen wünschte. Unsere RAD-Zeit wurde aus heiterem Himmel um einen Monat verlängert. Als Begründung wurde angegeben, es herrsche Erntenotstand. Die Arbeitsmänner des Sommerhalbjahres 1937 sollten den Bauern vier Wochen bei der Einbringung der Ernte an die Hand gehen. "Wenn Sie mir nun unterstellen, ich empfände Schadenfreude über Ihr Mißgeschick, irren Sie", versicherte er. "Ich weiß, die Verlängerung wirft viele Pläne über den Haufen. Anderseits sollten Sie den Grundsatz beachten: 'Gemeinnutz geht vor Eigennutz'!" Das war wieder einer der unzähligen Gemeinplätze, mit denen das Volk aus der Propagandakiste des Josef Goebbels gefüttert wurde.

"Haben Sie noch ein paar aufmunternde Sprüche vorrätig, Lagerleiter?" schoß es aus Lothar Hanke heraus. Kaum eine Viertelstunde war vergangen, seit er auf seiner "Strichliste" wieder einen Tag ausgelöscht und einen Eiertanz aufgeführt hatte, weil nur noch fünf Tage Leidenszeit blieben. Nach dem Besuch mußten wir glatte achtundzwanzig Tage hinzurechnen. Bisher hatte sich Lothar dem Oberfeldmeister gegenüber zurückgehalten; nun vergaß er in seiner Verärgerung jede Vorsicht. Doch Mirus war zu einsichtig, um Öl ins Feuer zu gießen, und verschwand unauffällig.

Ich verbrachte die vier zusätzlichen Wochen in einem winzigen Dorf bei Taucha. Die ungewohnte Arbeit vom frühen Morgen bis in p.102 die tiefe Nacht verlangte mir einiges ab, aber ich wurde reichlich entschädigt dadurch, daß ich in einer Dachkammer für mich hausen und mir die freie Zeit nach Gutdünken einteilen durfte. Die Erlebnisse im Lager verblaßten, ich freute mich auf den Beginn eines neuen Lebensabschnittes.

Zwei Tage vor der Entlassung endete die Erntehilfe, wir kehrten nach Leipzig zurück. Zugführer Hans Schneider war zum Feldmeister befördert und in den Westen versetzt worden. Kurt Mirus meinte: "Hoffentlich hat es Ihnen bei uns gefallen, und Sie nehmen etwas von uns mit. Vielleicht hören wir gelegentlich voneinander."

Kontakte mit ihm schienen mir allerdings überflüssig. Mit Werner Wesche blieb ich bis zu dessen Tod in Verbindung, Josef Redzcynaski schreibt regelmäßig zur Weihnacht. Dem Pfarrhaus und Alois Eberle blieb ich dankbar verbunden. Als ich mich damals am 24. Oktober in Leipzig in den Zug setzte, kamen mir die verflossenen sieben Monate unwirklich vor und alles in allem wie eine Episode, die man vergessen kann.