Nicht allein wider den Strom
Zwölf besondere Jahre im Leben eines unbesonderen Menschen
Autobiografisches Manuskript von Josef Eschbach
Transkribiert, annotiert und herausgegeben von Haro von Laufenberg, 2018
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6. Noch immer nicht aus dem Schneider
p.58 Draußen rauschte die Nacht wie ein fallendes Wasser. Gegen zwei Uhr war ich aufgeschreckt worden durch eine Fledermaus, die sich ausgerechnet hinter meinem Kopfkeil niederließ. Ich hatte sie durch das offene Fenster hinausgewiesen, aber seitdem floh mich der Schlaf. Inzwischen zeigte die Uhr mindestens vier. Um fünf würden die Glocken läuten und das Dachgeschoß in seinen Fugen beben. Damit war die Ruhe für diese Nacht wahrscheinlich wieder vorbei. Ich lag still und lauschte auf die Geräusche draußen, die manchmal klangen wie das heimliche Gelärme eines Wasserfalls, das gemildert zu mir drang. So ging das jetzt seit fast einem halben Jahr; seitdem weilte ich als Novize der Gesellschaft Jesu im Bonifatiushaus 's Heerenberg, einen Steinwurf entfernt von der Grenze.
Während ich wach dalag, gedachte ich der verflossenen sechs Monate. Ich fror an diesem frühen Morgen plötzlich wieder, weniger wegen der Kühle als in der Erinnerung an diese Zeit. Ich glaubte im Anfang, ersticken zu müssen in der Anonymität des Klosterlebens; das Gefühl, hinter den hohen Mauern eingesperrt zu sein, sobald sich die mächtigen Eisenflügel des Portals hinter mir schlossen, lähmte mich. Die Umgangsformen wirkten ernüchternd. In Neudeutschland hatten wir uns selbstverständlich geduzt, und es gehörten nicht wenig Neudeutsche zu meinem Jahrgang. Im Orden waren die Anrede "Carissime" und das förmliche "Sie" für alle verbindlich vorgeschrieben. Außerdem mußte außerhalb der festgelegten Erholungszeiten striktes Schweigen gewahrt und in Notfällen lateinisch gesprochen werden, wie überhaupt Latein als Umgangssprache üblich war. Dadurch wurde es so gut wie unmöglich, sich bei jemandem auszusprechen und tröstlichen Zuspruch zu erfahren. Zu dem, der für "Zuspruch" vorgesehen war, Novizenmeister Pater Wilhelm Floßdorf, fand ich nicht den rechten Zugang, obgleich er sich gewiß redlich Mühe gab. Nein, die Art, in der man bei den Jesuiten miteinander umging, förderte das Gemeinschaftsgefühl nicht.
p.59 Auch das, was ich bei meinem ersten Predigtversuch erlebte, förderte nicht; im Gegenteil, ich schlich anschließend herum wie ein geprügelter Hund und faßte mehrfach den Entschluß, das Noviziat abzubrechen und nach Hause zurückzukehren. Weniger die Einsicht, daß man nicht gleich beim ersten Mißerfolg die Flinte ins Korn wirft, hinderte mich daran als die Scheu, daheim als Versager zu gelten.An sich passierte nichts Außergewöhnliches. In den ersten Wochen muß jeder Novize eine Probe seiner rhetorischen Fähigkeiten ablegen. Für einige bot dieser Auftritt willkommenen Anlaß, ihr Talent ins rechte Licht zu rücken; mich, der niemals vor einem großen und dazu so kritischen Auditorium gesprochen hatte, ließ schon der Gedanke daran schaudern. In meiner Vorstellung ähnelte diese Zur-Schau-Stellung fast einer öffentlichen Hinrichtung.
Derart voreingenommen, beschritt ich auch noch in der Vorbereitung meines Textes den falschen Weg. Ich meinte, eine besonders fromme Predigt käme am besten an. In meinem Innersten nicht so fromm, wie es nach meinem Dafürhalten von mir erwartet wurde, suchte ich Hilfen in einem asketischen Buch, das im Noviziat zur täglichen Pflichtlektüre gehörte. Es hieß "Übung der christlichen Vollkommenheit" und stammte von einem gewissen Rodriguez aus dem 16. Jahrhundert. Um meine These von der Notwendigkeit einer Umkehr des Lebens zu untermauern, baute ich neben weiteren Skurrilitäten das Beispiel eines Heiligen ein, der in dem Buch aufs höchste gepriesen wurde. Daß ich dieses Vorbild aus dem Mittelalter für angemessen hielt, verstehe ich bis heute nicht. Schon nach den ersten Sätzen staunte ich. Meine Darbietungen erzeugten zunehmende Heiterkeit. Über eine Stelle amüsierte sich die gesamte Zuhörerschaft besonders köstlich; mein Mitnovize Erich Mattelé aus Köln, der vor mir ein wahres Feuerwerk rhetorischer Überzeugungskraft versprüht hatte, schüttelte sich so, daß sein viel zu gewaltiger Kopf ständig nach vorn kippte. Selbst Pater Magister, dem Novizenmeister, gelang es kaum, Fröhlichkeitsausbrüche zu dämpfen.
Ich begriff die Welt nicht mehr. Was gab es zu lachen? Der Heilige, dessen Beispiel ich so rühmte, verließ jede Nacht mehrere Male seine Schlafstelle. Für mich schien klar, daß er aufstand, um Bußübungen zu verrichten. Daß meine Zuhörer völlig an-p.60deres damit verbanden, kam mir in meiner Einfalt nicht in den Sinn.
Ich fühlte mich durch diese unerwartete Wirkung meines Auftretens erniedrigt und hegte keinen Zweifel, sie verachteten mich, weil meine Predigt unmöglich gewesen war. Was sollte ich noch hier? Beredsamkeit wird bei den Jesuiten nun einmal großgeschrieben. Durch seine Begabung gerade auf diesem Gebiet hatte Pater Esch mich begeistert. Ich paßte nicht hierher, auch nicht in den Kreis der Anfänger, die wie Erich Mattelé viel geschickter formulierten und rhetorisch gewandter auftraten. Es dauerte Wochen, bis ich mich von diesem Schock erholte.
Andere Erlebnisse der ersten Wochen erwiesen sich gleichfalls als kaum geeignet, meine gedrückte Stimmung zu bessern. In meiner Predigt hatte ich zwar die Bußfertigkeit des mittelalterlichen Heiligen als Beispiel angeführt. Die Konfrontation mit der Wirklichkeit stieß mich zurück. Bei jeder Mahlzeit, außer an Sonntagen, wurden vor oder während des Essens öffentliche Bußübungen verrichtet. Man mußte dazu vorher die Erlaubnis des Pater Ministers erbitten. Er wartete vor der Tür des Refektoriums, des Speisesaals, der kleine, vornübergebeugte, ergeben lächelnde Mann mit der hohen Stirn, dem üppig wuchernden Haarkranz und den Kinderaugen. Wir kicherten im Anfang seinetwegen, über das Marionettenhafte seines Verhaltens, über die Art, wie er nickte, scheinbar abwesend, mit einer leichten, kaum wahrnehmbaren Bewegung. Als ich erkannte, daß dieses Nicken seine Zustimmung zu einer Bußübung erteilte, entsetzte ich mich.
Ich begriff nicht, was man sich von solcherart Selbstentblößung versprach, was es bringen soll, wenn Menschen sich freiwillig demütigen. Diese Bräuche gingen zurück auf den Ordensgründer Inigo de Loyola; er übernahm sie von den älteren Orden. Waren sie aber inzwischen nicht unzeitgemäß? Niemand gab heute doch zu, Fehler zu machen, schon gar nicht öffentlich, wie es die Büßer im Speisesaal ausdrücklich bekannten. Das widersprach dem Geist der neuen Zeit, die Machthaber propagierten das gerade Gegenteil. Der "Herrenmensch", den sie bei Nietzsche entlehnt hatten, war vollkommen und untadelig.
So sehr auch ich selber mich von diesem Geist erfaßt fühlte und so tief diese Selbsterniedrigungen meinen Stolz auch verletzten, p.61 völlig überzeugt von der Berechtigung meines Widerstrebens war ich trotzdem nicht, wenn ich die älteren Patres beobachtete, die sich den Bußübungen mit der größten Selbstverständlichkeit unterzogen. Es waren denkende Menschen wie wir, die meisten blickten auf ein vorbildhaftes Leben zurück. Pater Müller zum Beispiel hatte sechsunddreißig Jahre unter den Unberührbaren in Indien missioniert. Pater Jon Svensson aus Island war nicht nur der Verfasser der vielen Nonni-Bücher, sondern wirkte segensreich in verschiedenen Häusern seines Ordens. Pater Siepe war als Volksmissionar von Stadt zu Stadt gezogen. Solchen Männern durfte man weder Routine noch Heuchelei unterstellen, ihnen lag auch nicht daran, Bußgesinnung lediglich vorzuführen. Was veranlaßte sie sonst?
Noch einmal verletzten die Bräuche des Ordens meinen Stolz arg. Am Vorabend des Tages, an dem das Noviziat nach einigen Wochen Probezeit offiziell begann, fand ich auf dem Bett die neue Kleidung. Bisher benutzten wir eigene. Neben dem langen, schwarzen Talar, feierlich ausgebreitet, und dem schmalen Novizenzingulum entdeckte ich eine geflochtene Geißel und ein Drahtgestell, das, mit Widerhaken bestückt, um den Oberschenkel zu befestigen war; je nach Bewegung drangen die Spitzen schmerzhaft ins Fleisch ein. Ich fuhr zurück; das konnte doch nicht wahr sein! In diesem Orden kamen noch mittelalterliche Marterwerkzeuge zur Anwendung? Mir dämmerte, daß ich von Grund auf umdenken mußte, wollte ich den erwählten Weg weitergehen. Eine Passage aus Gertrud von le Forts Roman "Der Papst aus dem Ghetto" kam mir in den Sinn, in der sie Pater Grammatikus seinem Zögling, dem späteren Gegenpapst Anaklet, sagen läßt: "Mein Sohn, auch bei uns wird niemand mit der Liebe zum Kreuz geboren."
Zwiespalt lösten zunächst auch die morgendlichen Betrachtungen in mir aus. Beflügelt von Anregungen, den sogenannten "Punkten", die der Novizenmeister uns jeweils am Abend vorher bot, sollten wir religiösen Themen nachsinnen. Aber es mißlang mir unentwegt, regelmäßig irrte ich mit meinen Gedanken ab, und die besten Vorsätze halfen nicht. Ich getraute mich auch nicht, andere zu fragen; ich bewunderte sie im stillen, wie sie, in sich versunken, andächtig knieten und sich kaum von der Stelle rührten. Sie schafften es; aus mir wurde vermutlich nie ein vollwertiges Ordensmit-p.62glied.
Unglücklich darüber, Zeit nutzlos zu vertun, beschäftigte ich mich nach einigen Tagen damit, während dieser Morgenstunde Gedichte zu verfassen. Natürlich plagten mich Zweifel, ob solcherart Tätigkeit mit der vorgesehenen religiösen Einstimmung in Einklang stand; meine Bedenken zerstreute ich ein wenig, weil es sich ja um fromme Gedichte handelte, die entstanden. Außerdem fühlte ich mich in meinem Tun gerechtfertigt durch die Texte, die mein Mitbruder Erich Przywara geschrieben und in dem Büchlein "Karmel" veröffentlicht hatte, denn ich war fest überzeugt, daß auch sie die Frucht von Meditationen darstellten. Obgleich meine Gedichte seinen Einfluß nicht verleugneten, glaubte ich mich in meiner Überheblichkeit ihm ebenbürtig.
Das Schreiben bereitete mir von Tag zu Tag mehr Freude, und als Pater Heinrich Jansen-Cron, der Schriftleiter des "Leuchtturm", einige meiner Texte sogar druckte, begann die niedergedrückte Stimmung allmählich zu weichen. Das nach dem rhetorischen Versagen ramponierte Selbstvertrauen stieg, und jetzt freute ich mich auf die Stunde am Morgen. Mit Sicherheit wurde aus mir kein berühmter Kanzelredner; aber vielleicht lag meine Stärke auf literarischem Gebiet?
Diese Überzeugung wurde gestärkt durch ein Erlebnis während des sogenannten "Experimentes" im Krankenhaus. Der Jesuitennovize hat während des zweijährigen Noviziates mehrere "Experimente" zu absolvieren, unter anderen eine mehrwöchige Tätigkeit in einem Hospital. Auch diese Regelung geht auf den Ordensgründer Inigo von Loyola zurück, der sich selber durch aufopferungsvolle Dienstleistungen an kranken Menschen hervortat. Nach seinem Wunsch sollten seinen Jüngern "niedrigste und ekelerregende" Dinge zugemutet werden, um ihre seelische und körperliche Widerstandskraft auf die Probe zu stellen. Erniedrigende Krankenhausdienste wie im 16.Jahrhundert zu Zeiten des Ordensstifters waren 1935 sicher nicht mehr denkbar; immerhin bedeutete dieser Einsatz für die meisten auch jetzt noch eine Zumutung, die man nicht auf sich nahm, um einen Beruf zu erlernen, sondern um der Liebe Christi willen, ohne jeglichen Lohn. Ich wurde zu diesem Experiment ins Krankenhaus nach Emmerich geschickt, der ersten deutschen Stadt an der holländischen Grenze, in deren Nähe der Rhein Deutschland p.63 verläßt und in die weite niederländische Ebene hinaustreibt, eine knappe Wegstunde von 's Heerenberg entfernt.
Nun besuchten einige von uns während der mittäglichen Pause auch die Kinderstation, um sich der jungen Patienten ein wenig anzunehmen. Die zwölf- bis vierzehnjährigen Jungen bestürmten mich, ich möchte ihnen eine spannende Geschichte erzählen. Wahrscheinlich hatten meine Mitbrüder schon vor mir diesen Wunsch erfüllt. Was sollte ich auftischen? Ich überlegte, was ich in ihrem Alter gelesen hatte. Sofort fielen mir die Fortsetzungsgeschichten der "Burg" ein. Wie der "Leuchtturm" als Zeitschrift für die Neudeutschen ab etwa fünfzehn Jahren, erschien für die Zehn- bis Vierzehnjährigen die "Burg". Als Quartaner erwartete ich die neue Nummer immer mit höchster Spannung, vor allem wegen der Fortsetzungsgeschichte. Ich erinnerte mich noch an den erfolgsreichsten. Verfasser mit Namen Franz Seinsche. Wie er erfand auch ich eine Jungengruppe im Alter der Zuhörer, die auf Fahrt geht und auf dieser Fahrt in ein gefährliches Abenteuer verwickelt wird. Was ich noch nie erlebt hatte, war die Aufmerksamkeit, mit der die Kinder zuhörten und geradezu an meinen Lippen klebten. Mit Absicht brach ich mitten im spannendsten Moment ab. Wie enttäuscht sie waren! Erst nachdem ich zusicherte, am nächsten Tag zurückzukehren und weiterzuerzählen, ließen sie mich gehen.
Ich hatte ihre Bitte anfänglich nicht wichtig genommen und einfach erfüllt. Plötzlich war das doch etwas anders. Ich fühlte mich angesprochen, eine Art Glücksgefühl Überströmte mich. Ich konnte erzählen! War das nicht so wichtig wie Predigen? Der Gedanke ließ mich nicht los.
Auf dem abendlichen Heimweg ins Bonifatiushaus plagte mich allerdings eine schreckliche Vorstellung. Wie leicht gelang es, andere in seinen Bann zu ziehen! Mir kam die Begegnung mit Dr. Goebbels in Köln in den Sinn. Man kann Zuhörer zum Guten, aber auch zum Schlechten beeinflussen. Ich nahm mir vor, ich jedenfalls würde nie jemanden in die Irre führen.
Neugierig betrat ich am nächsten Mittag die Kinderstation. Die Stationsschwester berichtete fröhlich, die Jungen hätten während des Vormittags von meiner Geschichte geschwärmt und allerlei Mutmaßungen über ihren Fortgang angestellt. Als ich in ihr Zimmer kam, wollte einer wissen, ob man meine Geschichte auch nachlesen p.64 könne. Ich erkundigte mich nach seinem Namen. Er hieß Norbert Wegmann. Wenngleich ich die Frage verneinen mußte, ging sie mir den restlichen Tag über nach.
Am Abend entschloß ich mich, das Erzählte niederzuschreiben. Der Entschluß wirkte wie eine Erlösung. Wahrscheinlich hatte ich, ohne es zu ahnen, auf diesen Anstoß gewartet. Mein Leben im Bonifatiushaus bekam einen Sinn, ich fühlte mich nicht mehr so fremd und unangebracht. Von jetzt an schrieb ich nicht nur Gedichte, sondern arbeitete auch an dieser Geschichte. Es wurde mein erstes Jungenbuch "Ein Junge findet heim". Mit Norbert Wegmann blieb ich in Verbindung, auch als er längst aus dem Krankenhaus entlassen war. Wir schrieben uns häufig, sein letzter Brief kam aus Stalingrad. Seitdem ist er verschollen.
Die Nacht draußen rauschte noch immer, doch erste helle Streifen krochen durch die Kammer. Die Dämmerung breitete sich aus. Es dauerte nicht mehr lange bis zum Wecken. Trotzdem rückte ich mich noch einmal zurecht und fühlte mich fast geborgen. In diesem Augenblick schlug die Uhr. Die Glocken stimmten ein. Das Obergeschoß dröhnte so, daß ich mir die Ohren zuhielt.
Etwa drei Stunden später, nach dem Frühstück, klopfte es. Ein Besucher konnte es nicht sein, das verbot die Hausordnung. Ein Bruder rief mich zum Novizenmeister. Er erwartete mich. "Ich glaube, das ist ernst, Carissime", sagte er und nahm einen Brief in die Hand, eine Vorladung zur Gestapo für Sie."
Ich hob beide Hände an die Stirn, um die Bilder abzuwehren, die mich auf der Stelle überfielen. Gestapo! War ich immer noch nicht aus dem Schneider? Sechs Monate hatten sie mich in Ruhe gelassen, die Erinnerung an eine Zeit verblaßte allmählich, in der man stünd lieh mit neuen Überraschungen zu rechnen hatte. Da tauchten sie wieder auf. Und wenn sie mich hier aufgestöbert hatten, meinten sie es ernst. Angst schnürte mir die Kehle zu, ärger, als ich es zuhause je erlebte. Die Zuversicht des frühen Morgens wich lähmender Unsicherheit.
"Man erwartet Sie übermorgen um zehn Uhr in Emmerich." Pater Floßdorf legte den Brief aus der Hand und trat ans Fenster. "Ich muß Ihnen etwas sagen", erklärte er, "wir haben erfahren, daß man Sie mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit festhalten wird. Man wirft Ihnen die Verbreitung staatsgefährdenden Schrifttums vor." Wenn p.65 der Novizenmeister das behauptete, verfügte er über zuverlässige Informationen. Er redete nicht leichtfertig daher. Es hieß sowieso, die Jesuiten besäßen Verbindungsleute selbst bei der Geheimen Staatspolizei. Aber staatsgefährdendes Schrifttum? Darauf wußte ich mir beim besten Willen keinen Reim.
"Hören Sie", sagte er leiser und trat auf mich zu. "Das Schreiben kam gestern. Ich habe mich sofort mit Pater Provinzial in Verbindung gesetzt. Wir möchten nicht, daß Sie nach Emmerich gehen. Um neun Uhr wartet ein Taxi vor dem Portal. Es bringt Sie nach Valkenburg. In Valkenburg im holländischen Limburg nahe Aachen lag ein zweites Studienhaus der Jesuiten. Nach Bismarcks Kulturkampf und der Vertreibung des Ordens aus Deutschland erwarb die Gesellschaft Jesu Häuser im nahen Ausland, nach Möglichkeit nicht gar so weit von der Grenze. "Von dort schreiben Sie nach Emmerich und teilen mit, daß Sie zum angegebenen Termin nicht rechtzeitig erscheinen können. Gleichzeitig bitten Sie, in Aachen zu verhandeln und Pater Faust als Ihren Vertreter zu genehmigen, weil Sie aus ordensrechtlichen Gründen Holland nicht verlassen dürften. Was wir vorbereitet haben, bleibt unter uns."
Ich nickte zwar, die Worte aber rauschten an mir vorbei. Ich mußte mich langsam mit der plötzlich veränderten neuen Lage vertraut machen. Die Vorladung war bereits gestern eingetroffen, der Novizenmeister hatte sich jedoch zunächst mit dem Provinzial beraten, ehe er mich in Kenntnis setzte. Nun legte er mir eine Lösung vor, die nicht einmal die Gestapo zu rügen vermochte. Günstig war auch, daß in meinem Wehrpaß stand, ich sei wegen Auslandsstudien für fünf Jahre vom Wehrdienst zurückgestellt; ein Major von Hammerfest vom Generalkonsulat in Amsterdam hatte das schon vor Wochen ausdrücklich bestätigt. Pater Faust wohnte in Aachen in der Jesuitenresidenz auf der Kurbrunnenstraße und war der Gaukaplan des neudeutschen Kaiser-Karl-Gaues. Ich begriff allmählich, was Pater Floßdorf für mich getan hatte; er wollte mich vor einer Verhaftung bewahren. Ich bat ihm insgeheim ab, daß ich ihn nicht so sehr gemocht hatte.
Es blieb kaum Zeit, das Notwendigste zusammenzupacken, die Uhr zeigte drei Minuten vor neun. Kurze Zeit später saß ich neben dem vierschrötigen holländischen Taxifahrer. Ich roch seinen Tabakatem und wunderte mich über seine Fleischerhände. Wir redeten so p.66gut wie nicht miteinander. Vielleicht liebte der Holländer Deutsche nicht. Freilich stand auch mir der Sinn nicht nach Unterhaltung. Ich hatte genug zu tun, um mit mir selber ins reine zu kommen. Welchem Abenteuer fuhr ich jetzt entgegen?
Am Wagenfenster huschten die Bäume vorbei; ich bemerkte, einigermaßen überrascht, daß sie kaum noch Laub trugen. Der Herbst machte sich breit, von Frühling und Sommer hatte ich im ersten Novitiatsjahr kaum etwas wahrgenommen. Das, was ich jetzt registrierte, erfaßte ich wie ein Außenstehender, der zwar gewisse Vorgänge zur Kenntnis nimmt, aber sie nicht mit sich selber in Zusammenhang bringt. Meine Gedanken kreisten einzig um die Frage, was mit "Verbreitung staatsgefährdender Schriften" gemeint sein konnte. Auf einmal fiel mir das Lied "Wir traben in die Kneipe" ein; ich hatte es ja tatsächlich "verbreitet". Doch ich verwarf den Einfall bald wieder. So kleinlich die neuen Herren in Deutschland sein mochten, ein paar Spottverse ahndeten sie nicht gleich als Hochverrat. Ich tröstete mich damit, daß man mich mit einem anderen verwechselte.
Über Arnhem und Nijmegen erreichten wir nach einer guten Stunde die leicht hügelige, weit südwärts vorgeschobene Provinz Limburg und den Fremdenverkehrsort Valkenburg. Ich kannte das idyllische Städtchen von einem Besuch, den wir meiner Mutter zuliebe vor ein paar Jahren unternommen hatten. Sie verbrachte ein Jahr ihrer Jungmädchenzeit in einem holländischen Pensionat und wünschte sich seit langem, ihrer Familie das Haus zu zeigen. Als wir seinerzeit hier weilten, führte mein Vater uns auch vor den altmodischen, roten Backsteinziegelbau der Jesuiten. In seinen Träumen sah er mich schon hier. Daß ich in diesem Haus einmal Zuflucht vor der Gestapo suchen würde, konnte niemand voraussehen.
In den ersten Tagen fiel mir in dem riesigen Haus fast die Decke auf den Kopf. Ich wartete voller Ungeduld auf Pater Faust und auf das, was er bei der Polizei erfuhr. Aber auch er mußte warten. Er konnte erst tätig werden, wenn die Gestapo auf meinen Vorschlag einging und ihn vorlud. Inzwischen tat ich mich im Haus um, in der Bibliothek, im Park und in den Hörsälen. Die um fünf bis sieben Jahre älteren Mitbrüder, die in Valkenburg Theologie studierten, betrachteten mich mit ziemlicher Neugier. Ich p.67 hatte nichts verraten. Dennoch war durchgesickert, daß der ungewöhnliche Aufenthalt eines Novizen in der Theologie etwas mit der Gestapo zu tun hatte. Diese jungen Leute waren vor der Machtübernahme in den Orden eingetreten und lebten seitdem im Ausland; daher kannten sie die Verhältnisse im neuen Deutschland nur vom Hörensagen. So wunderte es nicht, daß sie gern mehr von mir und meinen Erlebnissen erfahren hätten. Wahrscheinlich ärgerten sich einige über mich, und doch erzählte ich die reine Wahrheit, wenn ich ihnen erklärte, den wahren Grund für meinen Aufenthalt in Valkenburg kenne ich selber nicht. Es war schon eine verrückte Situation.
Pater Rektor hatte mir sofort bei der Vorstellung anvertraut, daß noch jemand im Haus weile, der mit der Geheimen Staatspolizei Bekanntschaft gemacht hatte. Es handelte sich um Pater Aloisius Krächan, einen Schlesier, der aber vorher in Hannover wirkte. Ich lernte ihn bald kennen und bin manche Stunde mit ihm durch den Valkenburger Park spaziert. Nie ist mir ein verschlossenerer Mann begegnet. Er konnte eine Viertelstunde neben mir gehen, ohne ein Wort zu verlieren. Mit seinen Gebärden, seinem abweisenden Gesichtsausdruck, seinen kurz angebundenen Antworten benahm er sich fast schon unhöflich.
Je länger die Ankunft Pater Fausts sich verzögerte, desto ungeduldiger wurde ich. Mich verdroß die nutzlos vertane Zeit, mich plagte die sich ständig steigernde Ungewißheit. Den Augenblick, in dem der Ersehnte endlich vor mir stand, vergesse ich nie. Ludwig Maria Faust zählte zu den Stillen im Lande. Obgleich wir mit ihm, dem Gaukaplan, bedeutend häufiger zu tun hatten, trat er hinter Pater Esch völlig zurück. Auch an diesem Tag machte er nicht das geringste Aufheben, und dennoch ließ mich die Festigkeit, mit der er meine Hand lange umschloß; spüren, hier kam jemand, auf den ich mich unbedingt verlassen durfte. Angenehm berührte mich, daß er mich wie früher duzte, obschon ihm die Ordensregel das "Sie" vorschrieb; ich fühlte mich dadurch zurückgeholt in die alte Vertrautheit, die Fremdheit und das Verlassensein der vergangenen Tage waren wie ausgelöscht.
Während er vor mir saß, der schmale, hochgewachsene Mann mit dem schütteren, etwas rötlichen Haar, mit einer billigen Nickelbrille vor klugen, leicht verengten Augen, mit ein bißchen geöffne-p.68tem Mund, überlegte ich unwillkürlich, wie er auf Beamte der politischen Polizei wirken mochte. Nahmen sie ihm die entwaffnende Unbekümmertheit ab, oder vermuteten sie jesuitische Verschlagenheit dahinter?
"Merkwürdig", begann er, als hätte er meine Gedanken erraten, "jedes Mal, wenn ich mit diesen Leuten zu tun habe, weiß ich meinen Geburtstag nicht. Ich habe ihn wirklich vergessen", versicherte er, weil ich lächelte. "Sie vermuten natürlich sofort, mit mir stimme etwas nicht. Sie halten mich für jemanden, der in mehreren Identitäten auftritt und im Moment nicht weiß, welche gerade an der Reihe ist. Insgesamt jedoch ist dieser erste Eindruck von Vorteil", fügte er, jetzt selber lächelnd, hinzu, "sie sind mißtrauisch und äußerst vorsichtig."
"Bitte", drängte ich ihn, "was wirft man mir nun vor?"
"Du erinnerst dich an die Neuerburg?" Pater Faust hatte uns in den Pfingstferien 1934 auf die Neuerburg begleitet und damals das umgedichtete Lied "Wir traben in die Kneipe" gleichzeitig mit uns kennengelernt.
"Sagen Sie bloß, es geht um das dumme Lied!"
Er nickte. "Man hat es bei einem Neudeutschen aus deiner Gruppe gefunden." Er berichtete, was sich in der Musikstunde abgespielt hatte
"Ich gebe ja zu, daß ich es vervielfältigt und verteilt habe", räumte ich ein. "Aber das kann doch nicht so schlimm sein, daß man ein Staatsverbrechen daraus macht."
"Bei denen muß man mit allem rechnen", entgegnete Pater Faust vorsichtig. "Aber das ist tatsächlich nicht der eigentliche Vorwurf. Gefährlicher ist, daß sie dich für den Verfasser der Umdichtung halten. Und das ist für sie wirklich Hochverrat."
Mit dieser Sachlage mußte ich mich erst vertraut machen, das veränderte alles. Jemanden jagen, der das Lied bloß weitergab, das hatte ich selbst ihnen nicht unterstellt. Wenn sie aber in mir den Urheber dieser Spottverse vermuteten, mußten sie mich schon aus Selbsterhaltungstrieb bestrafen und mir das Handwerk legen. Für einen Augenblick bereute ich fast, daß ich nicht in der Tat der Verfasser war. Von den Nazis für gefährlich gehalten zu werden, bedeutete schon etwas. Aber ich wollte mich nicht mit fremden Federn schmücken. "Was wollen sie denn nun genau?" fragte p.69 ich schließlich.
"Was sie wollen", sagte der Jesuit zögernd, "was sie wollen? Im Grunde wollen sie dich. Sie wollen dich sehen. Ich habe alles versucht, um sie zu überzeugen, daß du wirklich nicht der Verfasser bist, daß wir den Text gemeinsam zuerst auf der Neuerburg gehört haben. Sie nehmen es mir nicht ab und halten es für eine Notlüge. Einer meinte, wenn du ein reines Gewissen hättest, wärest du selbst gekommen und hättest nicht mich geschickt."
Ich horchte auf. Warum sollte ich nicht tatsächlich nach Aachen fahren und sie überzeugen? Selbst, wenn sie mißtrauisch blieben, niemand konnte beweisen, daß der Text von mir stammte! "Halten Sie es für ausgeschlossen, daß ich Erfolg habe?" fragte ich Pater Faust. "Gilt zumindest nicht immer noch der Grundsatz, daß man jemanden erst verurteilen darf, wenn man ihm die Schuld nachgewiesen hat?"
Mein Besucher schüttelte den Kopf. "Das ist es ja eben", erwiderte er, "solche Grundsätze haben im neuen Deutschland ihre Gültigkeit verloren. Für sie ist schuldig, wen sie für schuldig halten. Ich fürchte, du hättest keine reeTie Chance, dich durchzusetzen. Deshalb rate ich dir, den vom Novizenmeister eingeschlagenen Weg nicht zu verlassen. Ich gebe zu Protokoll, daß du eidesstattlich versicherst, den Text nicht umgedichtet zu haben. Wir können nur hoffen, daß sie sich damit zufriedengeben und daß allmählich Gras über die Geschichte wächst."
"Es widerstrebt mir, kampflos aufzugeben. Benehme ich mich nicht wie ein Feigling, der vorzeitig die Flinte ins Korn wirft und aufgibt?"
"Ich verstehe, was in dir vorgeht. Aber wir müssen sorgfältig abwägen. Was wäre gewonnen, wenn sie dich festhalten? Trotzdem, es ist deine Entscheidung. Denke bis morgen nach. Ich schlafe in Valkenburg. Morgen sprechen wir noch einmal darüber."
Was sollte ich tun? Ich konnte nach Aachen fahren, wenn ich darauf bestand; niemand im Orden hätte mich gehindert. Wenn sich jedoch Pater Fausts Argwohn bestätigte? Als ich in tiefster Gewissensnot steckte, klopfte es behutsam an meine Tür.
Pater Krächan stand zitternd draußen; ich bat ihn herein. "Ich störe nicht lange, Carissime", versprach er leise. "Ich muß mit Ihnen reden. Ich habe vor zwei Jahren in derselben Situation ge-p.70standen wie Sie. Auch meine Obern hatten gewarnt. Aber mein Stolz war größer als mein Gehorsam. Ich wußte es besser. Ich glaubte an Gerechtigkeit. Als ich einsah, daß es für die Nazis den Begriff Gerechtigkeit nicht gibt, war es zu spät. Sie kennen nur Haß, abgrundtiefen Haß." Er zitterte heftiger.
"Ich kann mir vorstellen, was Sie erlitten haben, Pater Krächan", sagte ich ehrlich bewegt.
Da richtete sich Aloisius Krächan, der kleine, gedemütigte, verschlossene Krächan in voller Größe auf, stellte sich vor mich und verkündete dumpf: "Nein, Carissime, das können Sie sich nicht vor stellen! Das kann sich niemand vorstellen. Das war die Hölle. Damit Sie nicht in den gleichen Fehler verfallen wie vor zwei Jahren ich, bin ich gekommen. Erwarten Sie von denen im neuen Deutschland keine Gnade. Gehen Sie nicht!" Ohne eine Erwiderung abzuwarten, verließ er den Raum.
Ich zögerte jetzt keine Sekunde länger. Ich würde mich fügen und Pater Fausts Vorschlag annehmen. Vor seiner Abreise wanderten wir beide noch einmal durch den Park. Dann hockten wir auf einer Bank unter fast kahlen Bäumen. Die Herbstsonne ließ den Tag noch einmal warm werden. Sie hatte einen Zitronenfalter hervorgelockt, der die unzeitgemäße Witterung wahrscheinlich mißverstand. Sein Flug schien ein Gleichnis für mich. Der Schmetterling war mir in meiner Stimmung ein Unterpfand dafür, daß ich, auch wenn ich noch hier festsaß, irgendwann wieder den Wind der Freiheit spüren würde. Traurig blickte ich Pater Faust nach, als er mit weitausholenden Schritten davoneilte, und neidete ihm trotz aller Gefahren, daß er in den Mittelpunkt der Geschehnisse zurückkehren durfte, während ich mich verkriechen mußte. Er schaute sich noch einmal um und verabschiedete sich mit einem ebenso liebenswürdigen wie hilflosen Winken, ein Mann, der große Gesten verabscheute und dennoch nicht völlig zu unterdrücken vermochte, was ihn bewegte.
Meine Verbannung endete fünf Wochen nach diesem Abschied. Pater Faust ließ wissen, daß die Gestapo nach seiner eidesstattlichen Erklärung auf weitere Verhöre verzichtete. Ich weiß bis heute nicht, ob man ihm glaubte oder die Sache nur so lange unter Verschluß hielt, bis ich ihnen ins Garn ging. Der Propagandaminister sagte einmal: "Die Rache ist ein Gericht, das muß kalt genossen p.71 werden." Danach konnte ich kaum hoffen, daß sie mich ungeschoren ließen. Es blieb mir nichts übrig, als vorläufig holländischen Boden nicht zu verlassen.
Da bedeutete im Anfang keine allzu große Belastung. Doch je länger die Aussperrung anhielt, desto ärgerlicher wurde sie. Ich bekam buchstäblich Heimweh, wenn ich meinen Mitbrüdern nachblickte, die die Grenzstation passierten, um ihren freien Tag irgendwo in Deutschland zu verbringen. Zum Glück hatte ich mein Krankenhausexperiment schon absolviert; jetzt hätte ich darauf verzichten müssen. Natürlich verfügte auch die Heidelandschaft in der Umgebung 's Heerenbergs über ihre Reize, und Wanderungen an den Rhein bei Zevenaer gehören zu meinen schönsten Erinnerungen. Doch es war eben nicht Deutschland, und am bittersten empfand ich, daß mir meine Ausflugsziele vorgeschrieben wurden.
Besonders nachhaltig wurden meine Demut und meine Geduld auf die Probe gestellt, als das Noviziat während der Ferien 1936 nach Hochelten übersiedelte. Über dem damals deutschen Grenzort Elten gelegen, besaß das alte Stift neben mehreren Häusern einen großen Park, der bis an den Rhein reichte. Ich kannte es von Besuchen vor der Valkenburger Zeit. Jetzt mußte ich als einziger Novize in dem gähnend leeren Bonifatiushaus zurückbleiben. Pater Magister, immer noch um mich bemüht, hatte zwar für etwas Abwechslung gesorgt. Ich sollte während des Ferienmonats das Buchbindern lernen. Und Bruder Hüttendorf, der 's Heerenberger Buchbinder, kümmerte sich sehr um mich; ich habe in den nachfolgenden Jahren diese handwerkliche Fertigkeit oft genutzt. Dennoch verhinderte die Tatsache, daß mir dieser Ferienjob aufgezwungen und nicht aus freien Stücken von mir übernommen wurde, die richtige Einstellung. Als getreuer Jünger des Inigo von Loyola hätte ich diese Prüfung nämlich hinnehmen und für mein Seelenheil und "zur größeren Ehre Gottes" aufopfern müssen. Trotz über einjähriger Vertrautheit mit den Regeln und dem Geist des Ordensstifters fühlte ich mich jedoch zu solcher Seelengröße und zu solcher Selbstentäußerung immer noch nicht fähig. Zu tief wurzelten in mir Empörung und ohnmächtiger Zorn denjenigen gegenüber, die die Macht besaßen, so einschneidend über mich und mein Leben zu bestimmen. Vielleicht war ich bloß noch zu jung dazu. Aber möglicherweise offenbarte sich auch daran schon jetzt, daß ich die rechte ignatianische p.72 Bußgesinnung nie erlangen würde.
Auch dieser Monat ging schließlich zu Ende, und die Novizen kehrten nach 's Heerenberg zurück. Zwei oder drei Wochen später begann in Berlin die Olympiade. Es gelang den Machthabern, dieses sportliche Ereignis so zu inszenieren, daß sich ihr internationales Ansehen dadurch beträchtlich verbesserte. War man ihnen bisher immer noch mit deutlichem Mißtrauen begegnet, lockerte sich jetzt die Reserve zusehends. Unkritische Beobachter überschlugen sich fast vor Anerkennung, und selbst eingefleischte Regimegegner mußten einräumen, daß der Diktator es verstand, die wahren Absichten zu verschleiern und der Welt Sand in die Augen zu streuen. Die Nationalsozialisten befanden sich auf dem Höhepunkt der Macht. Es fiel schwer, hinter die Kulissen zu schauen. Zu den eindrucksvollsten Bildern dieser Tage gehörte abends der Lichtdom über dem Stadion und dem Häusermeer. Das Schauspiel zog die Berliner und die Besucher fast magisch in seinen Bann. Wer wußte schon, daß die Lichtkegel von Scheinwerfern aus Flakgeschützen an den Himmel geworfen wurden? Diese Geschütze waren aufgestellt worden, um ein paar Jahre später die Wolken nach feindlichen Flugzeugen abzusuchen, die über der Reichshauptstadt erschienen. Daran dachte 1936 kaum jemand.
Unvergleichlich gefährlicher, als auf einen Monat Sommerferien zu verzichten, wurde es Anfang 1937 für mich. Der Orden sah sich gezwungen, das Bonifatiushaus zu verkaufen. Das hing einmal mit der Propaganda zusammen, die wie auf Kommando begann mit dem Ziel Ordensniederlassungen in Verruf zu bringen; die Waldbreitbacher Prozesse wurden weidlich ausgeschlachtet. Um die Aktion wirkungsvoll zu unterstützten, drehte man Häusern im Ausland einfach finanziell den Hahn ab. Im März wurde das Noviziat von 's Heerenberg nach Hochelten verlegt.
Was geschah mit mir? Hatte die Gestapo meinen Fall in den anderthalb Jahren zu den Akten gelegt? Als Alternative bot man mir an, mein Noviziat in der holländischen Ordensprovinz abzuschließen. Dazu verspürte ich nicht die geringste Lust. Nach stundenlangen Erörterungen wurde entschieden, daß wir es wagen wollten und daß ich mit nach Hochelten ging. Zuerst fühlte ich mich wie in einem verbotenen Land. Nachts wachte ich auf und brauchte einige Zeit, um zu begreifen, daß ich p.73 bloß geträumt hatte, Kommissar Strelow stehe vor meinem Bett und beuge sich über mich. Je mehr Zeit verging, desto ruhiger wurde ich. Der angebliche Verfasser der Umdichtung schien für die Gestapo tatsächlich uninteressant geworden zu sein.
Nachdem wir jetzt wieder in Deutschland ansässig waren, wurde die Zurückstellung vom Wehrdienst ungültig. Noch Ende des Monats März erhielten die ersten von uns ihre Einberufung zum Reichsarbeitsdienst. Alle jungen Deutschen hatten ihn vor Erfüllung der Wehrpflicht abzuleisten. Am 3. April kam auch ich an die Reihe. Wenn ich auch nicht unbedingte Begeisterung verspürte, ein Tröstliches barg der Bescheid: Die Erfassungsbehörden brachten mich zum Glück nicht mit der Verbreitung "staatsgefährdenden Schrifttums" in Verbindung. Sonst hätten sie mich ja nicht für würdig befunden, das "graue Ehrenkleid des Führers" zu tragen.