Josef Eschbach:

Nicht allein wider den Strom

Zwölf besondere Jahre im Leben eines unbesonderen Menschen

Autobiografisches Manuskript von Josef Eschbach

Transkribiert, annotiert und herausgegeben von Haro von Laufenberg, 2018

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5. Die oben

p.47 Ein wichtiger Abschnitt meines Lebens wäre beinahe mit einem Paukenschlag zu Ende gegangen. Man muß sich das vorstellen: Man besucht dreizehn Jahre die Schule und verfehlt am Ende die sogenannte Reifeprüfung wegen einer ausgemachten Bagatelle. Diejenigen, denen das gelungen wäre, hätten gejubelt.

Wenn nun diese Hürde auch genommen war, am Beginn der nächsten Epoche stand ich vor einer neuen Schwierigkeit, nämlich der richtigen Berufsentscheidung. Wer mich während der letzten Jahre beobachtet hatte, mußte zu dem Schluß kommen, daß ich mich für das Studium der Theologie entscheiden würde; wer mich näher kannte, konnte wegen meiner Kontakte zu Pater Esch noch klarer auf den Eintritt in dessen Orden tippen.

Aber gerade das behagte mir nicht. Wo stand denn geschrieben, daß mir keine andere Wahl blieb? Es mußte doch nicht jeder, der einmal mit den Nazis zusammengestoßen war, gleich Priester werden! Ich wehrte mich dagegen, von vornherein abgestempelt zu sein, ich wollte meine Wahl aus freien Stücken treffen. Ich hätte sogar mit meinen bisherigen Widersachern Frieden schließen können; ich war fest überzeugt, daß sie einen "reuigen Sünder" mit offenen Armen aufgenommen hätten. Nach meiner Einschätzung gab es damals in Deutschland drei Kategorien von Menschen. Ein kleiner, fanatisch entschlossener Kern identifizierte sich mit allem, was geschah. Eine ebenfalls kleine Gruppe lehnte den Nationalsozialismus zwar aus recht unterschiedlichen Gründen, aber leidenschaftlich und zum Äußersten bereit ab. Zwischen diesen Extremen bewegte sich die Masse der Anpasser und Mitläufer, vielleicht 90%; entweder kümmerten sie sich nicht um Gut und Böse, um Recht oder Unrecht, oder sie nahmen es bewußt in Kauf, um auf der Woge mitzuschwimmen und von ihr zu profitieren. Nur eines wußte ich in den schwi.erigen Wochen nach dem Abitur genau, zur Kategorie der Anpasser wollte ich nicht gehören. Derer gab es sowieso zu viel.

Aber war es unehrenhaft, aus einem Saulus ein Paulus zu werden? Junge Menschen lieben Ideale. Wenn ich die Nazis unberechtigt ab- p.48 gelehnt hatte? Ohne Zweifel sah ich sie anfänglich zu sehr durch die Brille anderer, meines Vaters etwa oder Dr. Holtschmidts; betete ich zu unkritisch nach, was mir eingetrichtert worden war? Ich zählte inzwischen achtzehn, und es wurde höchste Zeit, daß ich mich mit den Problemen in eigener Verantwortung auseinandersetzte. Dazu gehörte insbesondere mein Verhältnis zu denen, die inzwischen in Deutschland das Sagen hatten und nach eigenem Bekunden angetreten waren, das Vaterland aus der Lethargie zu befreien und zu neuer Größe zu führen. Vor allem hatte ich mich zu wenig mit den führenden Männern befaßt.

Um das Versäumte nachzuholen, empfahl es sich, mit dem Mann an der Spitze anzufangen, von dem es hieß, der Nationalsozialismus sei er und er sei der Nationalsozialismus. Jemand behauptete, es gäbe nur einen hundertprozentigen Nationalsozialisten, nämlich ihn. Unsicher wurde ich, als aus der Zuhörerschaft dazwischengerufen wurde, das stimme, leider jedoch gäbe es zu viele hundertfünfzigprozentige. Die Leute lachten. Doch darüber mußte man nachdenken und nicht lachen.

Wes Geistes Kind war er, wo stammte er her? Man soll über einen Menschen nie den Stab brechen seiner Herkunft wegen. Damit meine ich nicht den Geburtsort Braunau am Inn, an der Grenze zwischen Bayern und Österreich. Mich wunderte, wieso ausgerechnet er die Wiederherstellung der germanischen Rasse auf seine Fahnen schrieb, der über die eigenen Vorfahren keine schlüssigen Angaben zu machen vermochte. Einen neuen, reinblütigen Menschentyp wollte er züchten. Er, der selber die Bedingungen zur Aufnahme in die SS nicht erfüllte, verlangte Ahnennachweise und jagte Millionen in den Tod, in deren Adern "minderwertiges" Blut floß. Das schien mir außerordentlich widersprüchlich.

Ich untersuchte das Begriffspaar "Nationalsozialismus". Was verstand er genau darunter? "Nationalismus" und "Sozialismus" sind im Grunde Gegensätze. Spielte der Begriff "Nationalismus" wirklich im vergangenen Jahrhundert noch eine beachtliche Rolle, hatte ihn das Bismarckreich nach der Reichsgründung 1871 schon stark verwässert. Die neuen Machthaber entwerteten ihn noch viel entscheidender, "Nationalismus" bedeutete in Wahrheit für sie kaum mehr als "Volkssolidarität". Das Volk, die Nation hatte nur mehr Wert als Masse, als Summe von Individuen, der Einzelne bloß insoweit, wie p.49 er als Teilchen. für das Ganze unentbehrlich ist.

Die Vereinnahmung des Begriffes "Sozialismus" hielt ich für noch unberechtigter. Wer ernsthaft "Sozialismus" beschreiben möchte, kann Karl Marx nicht ausklammern. Obgleich sich der Mann an der Spitze einerseits voller Anmaßung als dessen Gegenspieler und Überwinder ausgab, rühmte er sich gleichwohl, das Hauptwerk "Das Kapital" nicht einmal gelesen zu. haben. Leute aus seiner Umgebung versicherten, er begreife überhaupt nicht, wie Marx argumentiert. Sozialismus verstand er als eine Art von Volksbeglückung. So setzte er sich beispielsweise für eine umfassende Altersversorgung ein; er sorgte für viele Fürsorgeeinrichtungen. Das mögen menschenfreundliche Maßnahmen sein, Sozialismus ist mehr.

Für den Denkenden demaskierten sich demnach die beiden Begriffe für die nationalsozialistische Praxis als Worthülsen, als reine Demagogie, die etwas für sich beanspruchte, was einer Prüfung nicht standhielt. Aber man sollte nicht übersehen, daß die Nazis auf diese Weise eine Strömung auffingen,die sich nach dem ersten Weltkrieg ausgebreitet hatte~ Nach Beseitigung der Klassenunterschiede, die noch im Kaiserreich eine Rolle spielten, brauchte der sogenannte kleine Mann einen neuen Lebenssinn. Der "Führer" vermittelte ihn mit seinem Programm, erläuterte die Umschichtung pausenlos und verbrämte sie mit schillernden Parolen.

Jede große geistige Bewegung hat ihr Standardwerk, in dem die neuen Ideen vorgestellt werden. Besaß der Nationalsozialismus ein derartiges Standardwerk? In den ersten Jahren wurde der "Mythos des XX. Jahrhunderts" dafür ausgegeben, ein Buch des Baltendeutschen Alfred Rosenberg. Als ich erfuhr, daß der Diktator persönlich es als "Schmarren" deklassiert hatte, vergaß ich Alfred Rosenberg.

Später hörte man da und dort, Friedrich Nietzsche habe Einfluß auf das Programm ausgeübt. Auf den ersten Blick überrascht in der Tat, wie viele Schlagworte die neue Ideologie von ihm übernahm, zum Beispiel "Wille zur Macht", "Herren-" und "Übermensch". Sie erscheinen geradezu wie ein Glücksfall für das Nazi-Vokabular; Nietzsches Wortschöpfung "blonde Bestie" und seine These vom Sieg der der starken Völker über die schwachen untermauern den Anspruch der "Arier" doch vorzüglich!

Doch je systematischer man sich mit Nietzsche befaßt, um so deutlicher p.50 wird, daß die Nazis ihn zu Unrecht für sich beanspruchten. Kein Denker des 19. Jahrhunderts übtso vernichtende Kritik an Bismarcks "Zweitem Reich", nirgendwo werden "Deutschtümelei" und Antisemitismus so angeprangert wie bei Nietzsche. Den Nazis schien die Reinhaltung der Rasse höchstes Ziel; für ihn wird das gerade Gegenteil zum "Quell großer Kulturen", nämlich eine möglichst umfassende Rassenmischung. Der leidenschaftliche Appell Friedrich Nietzsches gegen die Gleichschaltung von Geist und Macht mußte den neuen Männern in den Ohren dröhnen.

Rosenberg und Nietzsche konnten also das nationalsozialistische Programm nicht näherbringen. Möglicherweise erschloß das Buch, das von dem Mann an der Spitze persönlich stammte, das Gesuchte? Ich besorgte mir ein Exemplar von "Mein Kampf", 1924 nach dem mißglückten Marsch vom 9. November in Landsberg entstanden. Ausdrucksform und Sprache des Buches erinnerten an Karl May, Textvergleiche zeigten überraschende Übereinstimmungen und Parallelen. Lehrer hätten den Satzbau und die Wortwahl beanstandet, vor allem etliche verquere Adjektive. Kein Zweifel, der Verfasser hatte den Erzähler aus Radebeul geschätzt und aufmerksam gelesen. Das wagte ich natürlich nicht laut zu äußern. Später brauchte ich mehr so vorsichtig zu sein. Der "Führer" hatte Karl May allen Ernstes empfohlen, als er sich über einen Mangel an Phantasie bei seinen Generalen bitter beklagte; wer einen modernen Krieg führen und gewinnen wolle, müsse ihn lesen. Fortan allerdings erwartete ich auch keine Gedankenerhellung aus dieser Lektüre.

Was hielt der Diktator von Christentum und Religion? In frühen Reden versicherte er, er stünde auf dem Boden des "positiven Christentums". Wir, der Religionslehrer inbegriffen, waren dankbar für diese Stellungnahme und glaubten nun, er beurteile die Lehre des Jesus von Nazaret positiv. Nach dem Abitur jedoch stieß ich auf Zitate, die sich damit ganz und gar nicht vertrugen. Sie stammten aus seiner Wiener Zeit vor dem ersten Weltkrieg, damals hatte er sich in populärwissenschaftlichen Aufklärungsschriften informiert und sich seine Meinung gebildet. Er unterstellte, daß es Menschen "im Range eines Pavians" zwar mindestens schon seit dreihunderttausend, Religion aber höchstens seit zweihundertfünfzigtausend Jahren gäbe. Was tat Gott während der Zeitspanne der fünfzigtausend? Der "Führer" hielt es für absurd, anzunehmen, daß ein Gott so lange p.51 wartete und das Verderben über die Menschheit hereinbrechen ließ, bevor er sich entschloß, einen "eingeborenen Sohn" zur Erlösung in die Welt zu senden. "Ein Mordsumweg", hieß es in dem Zitat, "kolossal beschwerlich der ganze Vorgang." Was bei einer solchen Gottesvorstellung die ständige Bemühung der "Vorsehung" in seinen Reden sollte, ist schwer einsichtig. Was sollte das Bekenntnis, er bejahe "positives Christentum"? Entweder prägte er den Begriff zur beabsichtigten Irreführung, um in den schwierigen Überzeugungsjahren Christen auf seine Seite zu ziehen; oder er maßte sich an, die zweitausend Jahre alte Lehre des Jesus von Nazaret zurechtbiegen und für seine Zwecke manipulieren zu können. Die Unterstützung, die die Nazis den sogenannten "Deutschen Christen" unter Reichsbischof Müller, einer Abspaltung von der evangelischen Kirche, gewährten, deutet in diese Richtung.

Nur allmählich leuchtete mir ein, was mit "positivem Christentum" gemeint war. Aufschlußreich ist der Begriff "positiv" in diesem Zusammenhang. Für die neue Ideologie war "negativ" Nachgeben, Verzichten, Verzeihen, Sich-Fügen, Sich-Unterwerfen. In diesem Sinne ist auch die Lehre des Jesus von Nazaret negativ. Denn er erfüllt seinen Auftrag, zu erlösen, indem er, mit den Augen der Welt gesehen, Schiffbruch erleidet. Er erlöst durch eine scheinbare Niederlage, den Tod am Kreuz. Eine derartige "Schwäche" ertrug der Diktator nicht. Nur wer sich auflehnt, kämpft, sich rächt, zurückschlägt, handelt nach den Wertvorstellungen der Nazis positiv. In diesen Kategorien dachten die Herrschenden. Also war das angebliche Bekenntnis zum Christentum Lüge, Stimmenfang, Irreführung, Manipulation.

Wer so mit der Wahrheit umgeht, konnte nicht mein Vorbild sein. Daß ich nicht übertrieb mit meinem Urteil, zeigt ein weiteres Zitat aus einem der "vertraulichen Gespräche" des "Führers und Kanzlers": "Der christlichen Lehre von der unendlichen Bedeutung der menschlichen Einzelseele und der persönlichen Verantwortung setze ich mit eiskalter Klarheit die erlösende Lehre, von der Nichtigkeit und Unbedeutendheit des einzelnen Menschen und seines Fortlebens in der sichtbaren Unsterblichkeit der Nation gegenüber." Deutlicher kann man das Individuum nicht entwürdigen, wer so denkt, denkt ausschließlich in Masse. Von diesem Standpunkt aus ist der Satz gerechtfertigt: "Recht ist, was dem Volke nützt."

p.52 Mochte, was der Gefreite des ersten Weltkrieges von sich gab, kritischen Analysen auch nur äußerst notdürftig standhalten, der Dichter Dietrich Eckart hielt ihn für genau den Richtigen an der Spitze der neuen Bewegung. Eckart nämlich führte den Mann aus Braunau 1919 in die entsprechende Münchener Gesellschaft ein. Der Dichter wünschte sich an dieser Stelle weder einen Offizier noch einen Akademiker noch jemanden aus dem sogenannten Bildungsbürgertum; es sollte ein Mann aus dem Volke sein. Wahrscheinlich lag Eckart damit für den größten Teil der erhofften Anhängerschaft tatsächlich richtig. Wer aber zeigte sich in diesem Fall berufen, Aushängeschild zu sein für diejenigen, die etwas höhere Ansprüche stellten?

Bis zuletzt spielte Josef Goebbels aus Rheydt am linken Niederrhein diese Rolle. Zwar war auch er aus recht armseligen Verhältnissen emporgestiegen, aber die Eltern hatten den intelligenten Jungen auf das Gymnasium geschickt, und so erwarb er sein Wissen nicht als Autodidakt wie sein Herr und Meister. Er galt früh als wortgewaltig und schlagfertig und wurde mit einer Dissertation über den Romantiker Wilhelm von Schütz promoviert; noch als Minister verfaßte er stets lesenswerte Kolumnen. für die Wochenzeitschrift "Das Reich".

Ich wollte ihn persönlich erleben und fuhr deswegen Anfang 1934 nach Köln, wo der "Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda" in einer Massenkundgebung auftrat. In Wochenschauen und Illustrierten hatte ich ihn schon oft gesehen, aber der direkte Anblick wirkte noch abstoßender. Von schwächlicher Statur und mißgestaltet, trug er am rechten Fuß einen orthopädischen Schuh und humpelte dennoch wegen einer Verkürzung des Beines. Der heftig gestikulierende, sich nach allen Seiten wendende, fast unbeherrscht wirkende Redner war zwar ein glänzender Rhetoriker und ein brillanter Formulierer, aber ich gewann trotzdem den Eindruck, daß bei jedem Satz Bitterkeit mitschwang und daß ihm vor allem daran lag, die Benachteiligung, die das Leben ihm durch das körperliche Gebrechen auferlegte, durch seine Intelligenz und seine Sprachgewalt auszugleichen. Möglicherweise waren Härte und Feindseligkeit der Kampfzeit 1934 noch nicht so überwunden wie in den Jahren danach. War dem ersten Mann der Bewegung wegen der Verständnislosigkeit des Elternhauses und der Umgebung ver- p.53 wehrt geblieben, sich natürlich und unverkrampft zu entwickeln, und hatte er echte Geborgenheit zum ersten Mal in seinem Leben in einer Kaserne gefunden, litt Goebbels zeitlebens an seiner Mißgestalt, ja er wurde wegen seiner erbärmlichen Figur und wegen des zu großen Kopfes geradezu zum Menschenverächter. In seinem Tagebuch liest man: "Das Verzichten habe ich nun gelernt. Und eine grenzenlose Verachtung der Canaille Mensch." In Köln war unverkennbar, wie der sich steigernde Applaus den Redner beflügelte. Das Gesicht verzerrte sich noch mehr; die Augen brannten, die Stimme überschlug sich zuweilen in seinen Haßtiraden. Er genoß es zu sehen, daß die Zuhörer ihm ins Garn gingen. Auch Unteroffizier Himmelstoß, zivil Briefträger, kompensiert in Remarques Buch "Im Westen nichts Neues" Minderwertigkeitsgefühle wegen seiner Statur; er versucht es durch übertriebenen Kasernenhofdrill. Dem kleinen Doktor gelang es durch Rhetorik.

Nach dieser ersten Begegnung wollte ich mehr erfahren über Josef Goebbels. Ich fuhr also mit dem Rad in das nicht weit entfernte Rheydt und durch die Dahlener Straße, in der seine Eltern ein Reihenhaus besaßen. Der Vater war vor sechs Jahren gestorben, Frau Goebbels erlebte den Aufstieg des Sohnes und überlebte seinen Untergang. Das einstöckige Häuschen war eines unter vielen anderen. In seiner 1933 erschienehnBiografie erzählt der Propagandaminister ein wenig überheblich, der Vater habe mit Erfolg danach gestrebt, Besitztum zu erwerben, "um nach dem Proletarier auch den Stehkragenproleten zu überwinden." Vermutlich gehörten Josef, dem dritten Sohn, die besonderen Zuwendungen der Eltern, weil sie ihn über seine Anomalität ein wenig hinwegtrösten wollten, vor allem deswegen ermöglichten sie ihm auch den Besuch der höheren Schule. Er nutzte, was man ihm bot, höchst zielstrebig aus. Aus seiner Rheydter Zeit erfuhr ich nichts Nachteiligen über Goebbels.

Als Student und in den Jahren danach zeigte er sich weniger nobel. Niemand verargte ihm, daß er sich zur Erleichterung des Studiums um finanzielle Unterstützung bemühte; er erhielt sie durch ein Darlehen des katholischen Albertus-Magnus-Vereins. Schäbig mutet an, wie er sich hartnäckig und boshaft um die vertraglich vereinbarte Rückzahlung herumzumogeln trachtete. Schon, daß er damit jüngeren Kommilitonen ein Stipendium, wie er es vorher be- p.54 zogen hatte, vorenthielt, war unkollegial genug. Geradezu charakterlos erscheint er mir in der Begründung seiner Weigerung. Es widerstrebte ihm, daß das Geld in eine "katholische Einrichtung" zurückfloß. Als er den Antrag 1917 stellte, bat er noch um die "Mildtätigkeit seiner katholischen Glaubensgenossen"; nun wurmte es ihn nach seinen Angaben, daß er damit die "klerikale Weltverschwörung" unterstützte. Weil Mahnungen nichts fruchteten, wurde er 1929 gerichtlich zur Zurückzahlung gezwungen; doch als er langst in der Lage gewesen wäre, die verjährte Schuld in einer Summe zu tilgen, stotterte er sie in unregelmäßigen Raten ab und mußte ständig erneut darum ersucht werden.

Man könnte diesen an sich zweitrangigen Vorgang vergessen, wenn er nicht einen Wesenszug offenbarte, der den zweiten Mann des Dritten Reiches charakterisiert. Er beweist nämlich, daß Goebbels Opportunist war, der seine Fahne nach dem Wind hängte. Als er sich von der Kirche Vorteile versprach, nahm er ihre Hilfe ungeniert an; wenig später verfolgte er sie mit Haß. Es blieb nicht bei dieser einmaligen Kehrtwendung. Nach dem Austritt aus der Kirche propagandierte er linksradikale Strömungen, als Trommler der Nazis bekämpfte er hinwiederum die Kommunisten als einer ihrer entschiedensten und erbittertsten Gegner. Es ist verständlich, daß er nach Jahren der Armut und der vermeintlichen Demütigungen gern auf der Sonnenseite des Lebens gestanden hätte; aber muß man dazu die Richtung gleich zweimal grundlegend ändern? Schlimm an ihm war, daß ihm im Grunde nichts heilig war, daß er jeweils die Ware anbot, die ihm am ehesten verkäuflich schien. Ich komme nicht umhin, ihm zu unterstellen, daß er 1945 ein drittes Mal umgeschwenkt wäre, hätte sich ihm eine Möglichkeit geboten. Ohne Zweifel beherrschte er sein Handwerk ausgezeichnet. Aber ist es das, was am Ende zählt? Es komme nicht darauf an, behauptete er einmal, daß eine Argumentation Niveau habe und in sich schlüssig sei, sondern daß sie zum erwünschten Ziele führe. Darin vermochte ich Dr. Josef Goebbels nicht zu folgen.

Daß ich ihn nicht ungerechtfertigt der Doppelzüngigkeit bezichtige, zeigt sein Verhalten, als es 1929 um den sogenannten Young-Plan ging. Es entstand eine rege Diskussion um Vor- und Nachteile dieses neuen Zahlungsvorschlages zur Regelung der Kriegsreparationen. Dr .Goebbels inszenierte einen aufwendigen Propaganda- p.55 feldzug dagegen und verwarf den Plan gehässig und gnadenlos. Er habe die Bedingungen sorgfältig studiert und befürchte die "Ausblutung eines Volkes". In Wahrheit ging es ihm mitnichten um den Plan; es ging ihm daraum, den Weimarer "Novemberverbrechern" zu schaden. Denn bereits 1933 gab er höhnisch zu, vom gesamten Plan nichts als die Überschrift gekannt zu haben. Nicht aus Überzeugung hatte er vom Leder gezogen, sondern um dem politischen Gegner in einer Schicksalsfrage der Nation eine Schlappe beizubringen.

Sollte jemand, der im Glashaus sitzt, andere mit Steinen werfen? Noch eine Ungereimtheit fiel beim Propagandaminister auf. Ausgerechnet er machte sich die These des Charles Darwin leidenschaftlich zu eigen, die das Recht des Stärkeren betont, das Schwächere, Minderwertige rückhaltlos auszurotten. Natürlich hätte er, darauf angesprochen, erklärt, hier ginge es nicht um Äußerlichkeiten. Dann hätte ich ihn mit dem Fall Domlatt konfrontiert. Domlatt, Steuerinspektor und Mitarbeiter meines Vaters, bucklig, wurde von der geringfügigen Verwachsung nicht einmal so entstellt wie der Minister durch das verkrüppelte Bein. Das bewahrte ihn jedoch nicht davor, wegen dieses Buckels vor eine Untersuchungsbehörde zitiert zu werden. Sterilisation wurde angeordnet; der unglückliche Mann, zutiefst verletzt, nahm sich selbst das Leben. Domlatts Schicksal, bestimmt kein Einzelfall, diente wochenlang als Gesprächsthema und wurde in der Stadt hinter vorgehaltener Hand diskutiert. Was dem kleinen Mann recht war, sollte den Großen billig sein! Dr. Goebbels jedenfalls zog keine Konsequenzen, seine Abenteuer mit Schauspielerinnen wurden eifrig zum besten gegeben. Über seine Bonmots und manche seiner spritzigen Formulierungen konnte man lachen; Leute wie Domlatt zum Beispiel lachten nicht, sie fanden die ungleiche Behandlung in diesem Staate nicht lächerlich, sondern tödlich.

Für den Dritten im Bunde, den Kampfflieger des ersten Weltkrieges, ab 1933 Reichstagspräsident und Chef der preußischen Landesregierung, empfand ich zunächst weder Bewunderung noch besondere Abneigung. Mit den beiden anderen verglichen blieb Hermann Göring blaß, und er existierte zuerst eigentlich nur in den unzähligen Witzen, die über ihn in Umlauf waren. Zielpunkt meist harmlosen Spotts waren seine Leibesfülle und seine Vorliebe für thea- p.56 tralische Auftritte, die sich beispielsweise in stets neuen Einfällen für wirkungsvolle Uniformen kundtat. Als in Trier der "Heilige Rock" ausgestellt wurde, erzählten die Trierer, Göring habe auch diesen Rock anprobieren wollen; der Bischof habe die Reliquie jedoch rechtzeitig in Sicherheit bringen lassen. Überhaupt kursierten damals Witzchen in Hülle und Fülle, nicht nur über Göring; damit macht man sich gerne Luft gerade in Zeiten, in denen die freie Meinungsäußerung unterdrückt wird.

Nun zeigte sich Hermann Göring, als letzter Kommandeur des Jagdgeschwaders Richthofen ein tollkühner und selbstgefälliger Draufgänger, auf die Dauer keineswegs bloß als ein prunksüchtiger und barocker Lebensführung zugetaner Landesherr. Er, der sich mit Hilfe des Morphiumderivats "Paracodein" gern in eine Traumwelt versetzen ließ, ging über Leichen, wenn es die Situation erforderte. Es wäre ungenau, ihn als Zweiten in der Hierarchie des Staatsapparates zu bezeichnen; entgegen landläufiger Auffassung verfügte das Dritte Reich nicht über einen hierarchischen Aufbau. Dennoch besaß Göring einmalige Machtfülle mit zeitweilig so vielen Ämtern, daß er mitunter dreimal sein eigener Vorgesetzter war. Kaum drei Wochen nach der Machtübernahme mobilisierte er Teile der SA als Hilfspolizei1, nach der Jagd auf politisch Andersdenkende entstanden auf sein Geheiß die ersten Konzentrationslager. Seine Rolle beim Reichstagsbrand blieb bis heute zwielichtig. Daß er mehr war als ein genütlicher Nutznießer des Regimes, bewies er in der "Nacht der langen Messer" nach dem Röhmputsch 1934; er leitete die preußische Polizei, die nicht nur die mißliebig gewordenen SA-Funktionäre, sondern gleichzeitig andere Unbequeme ermordete. Zu ihnen zählten der ehemalige Reichskanzler General Kurt von Schleicher und Dr. Erich Klausener, Vorsitzender der Katholischen Aktion in Berlin.

"Die oben" waren also keineswegs Vorbilder, und ich brauchte nicht eine Minute ernsthaft zu erwägen, unkritisch übernommene Urteile zu korrigieren. Im Gegenteil, mein Weg schien mir jetzt, im April 1935, nach sorgfältiger Bestandsaufnahme, klarer vorgezeichnet denn je. Ich konnte niemals gemeinsame Sache machen mit denen, die von diesen Drei geführt wurden. Wenn ich vor mir selber bestehen wollte, mußte diese Entscheidung auch in meiner Berufswahl deutlich werden.

p.57 Den letzten Anstoß, in den Jesuitenorden einzutreten, gab ein Erlebnis, über das ich lange nachdenken mußte. Ein paar Häuser von uns entfernt wohnte ein junger Mann, der seit dem Abitur 1932 Theologie studierte; ich schätzte ihn, weil er sich mit mir auch freimütig über Persönliches unterhielt. An diesem Abend fiel mir auf, daß Heinz Sawatzki sich beeilte, fortzukommen; deswegen betrachtete ich ihn genauer. Ich traute meinen Augen nicht. Heinz trug die braune Hose der SA und braune Stiefel. Als er merkte, daß ich mich nicht abweisen ließ, blieb er stehen. "Ich habe die Theologie an den Nagel gehängt", sagte er, "ich habe eingesehen, daß das nicht der richtige Weg war für mich."

"Mußtest du gleich in die SA gehen?" fragte ich.

"Wenn schon, denn schon", erwiderte er, "anders glaubt mir sowieso keiner, daß es mir ernst ist."

Diese Begegnung rüttelte mich auf, ich konnte abends lange nicht einschlafen. Das war keine Zeit, in der Halbherzigkeit und Dückebergerei erlaubt waren, man mußte Farbe bekennen. Heinz Sawatzki war auf halbem Wege stehengeblieben. So wollte ich nicht handeln. Ich weiß nicht, wie es kam; jedenfalls summte ich plötzlich vor mich hin: "Wenn alle untreu werden."

Ich fühlte mich unversehens sicher und war glücklich, durch eine klare Entscheidung jeden Zweifel ausschalten zu können. Seit Wochen trug ich ein Schreiben des Kölner Provinzials in der Tasche, in dem stand: "Oarissime! Nach dem Urteil der Patres, die Ihren Beruf geprüft haben, steht Ihrer Aufnahme in die Gesellschaft Jesu nichts im Wege." Der Orden hatte sich gebunden, es lag nur noch an mir.

Am 26. April verließ ich meine Vaterstadt, wie ich glaubte für immer.