Josef Eschbach:

Nicht allein wider den Strom

Zwölf besondere Jahre im Leben eines unbesonderen Menschen

Autobiografisches Manuskript von Josef Eschbach

Transkribiert, annotiert und herausgegeben von Haro von Laufenberg, 2018

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4. Allerlei Lyrik

p.38 In keinem Lebensabschnitt wurde ich mit so viel unterschiedlicher Lyrik konfrontiert wie in den beiden Jahren nach dem Umschwung. Mein Deutschlehrer in der Prima bevorzugte Unterrichtsreihen; so folgte er im Lyrikunterricht einer Anregung Ernst Wiecherts, die dieser unter dem Titel "Von den treuen Begleitern" veröffentlicht hatte. In diesem Büchlein behauptet der ostpreußische Schriftsteller, den die neuen Herren zunachst als einen der ihren priesen, später jedoch ablehnten und am Ende sogar in einem KZ mundtot machten, "er habe zeit seines Lebens nur die Hand auszustrecken brauchen, um jemanden zu finden, der unsichtbar neben ihm ging"; er meinte Gedichte und stellte vier vor, die wir in der Schule besprachen. Ich gehörte damals zu den überzeugten Verehrern Ernst Wiecherts, und ich konnte ihm nachempfinden, daß Gedichte auch "auf den dunkelsten Wegen" Trost spenden. Einer der Texte stammte von Friedrich Hölderlin, und ich sehe mich noch auf der Ufermauer sitzen, über anderthalb Verse grübelnd und sie immer wieder rezitierend:

warum schläft denn
nimmer nur mir in der Brust der Stachel?

Ich fühlte mich emporgehoben und gleichsam aufgenommen in den Bund derer mit dem "Stachel in der Brust".

Eines Tages erkrankte Dr. Holtschmidt, und ein Referendar übernahm den Unterricht. Ob er glaubte, sich patriotisch zu gebärden und im Sinne der Nazis zu handeln, wenn er uns ein Gedicht des "Reichsjugendführers" statt Hölderlins vorstellte, weiß ich nicht; auf jeden Fall identifizierte er sich fast mit folgenden Zeilen Baldur von Schirachs:

Da ihr noch spieltet, wurden wir Soldaten
und folgten jenem, der die Fahne trägt,
als ihr noch träumtet, lebten wir in Taten
und waren ganz vom Göttlichen bewegt.
Nun, da ihr wach seid, staunet ihr wie Toren
und neidet uns den heißerstrittnen Ruhm –
p.39 doch ihr vergeßt: Was wir darum verloren,
war unsrer Kindheit scheues Heiligtum.

Der Junglehrer war so durchdrungen von diesem Gedicht, das er mit Texten von Hölderlin und Goethe auf eine Stufe stellte, daß er nicht wenig staunte, als wir es inhaltlich wie formal restlos zerpflückten. Am ärgerlichsten empfanden wir die Floskel "Göttlicher"; natürlich waren derlei Übertreibungen inzwischen gang und gäbe, aber deswegen reizten sie uns umso mehr. Der junge Mann gab sich angesichts unserer Entschlossenheit rasch geschlagen und entschuldigte uns damit, daß wir schließlich nicht erlebt hätten, was der Verfasser auszudrücken wünsche.

Dieser Art von literarischer Vergewaltigung bekundeten wir allenfalls noch Toleranz, weil sich ihr Verteidiger bereitfand zu diskutieren. Was man uns jedoch draußen, außerhalb der Schule, in dieser Beziehung zumutete, überstieg langsam jedes erträgliche Maß. Erschwerend wirkten die äußeren Umstände, wie man uns damit bekanntmachte. Dreihundert Jungen, Angehörige des "Jungvolks", die Zehn= bis Vierzehnjährigen der politischen Jugendorganisation, zogen durch die Straßen. Sechshundert genagelte Schuhe hämmerten zum dumpfen Schlag der Landsknechttrommel auf den Asphalt: Wirbel, Pause, zweiter Wirbel, wieder Pause, drei Wirbel in Folge. Dazwischen sangen sie:

Es zittern die morschen Knochen
der Welt vor dem großen Krieg.
Wir haben die Knechtschaft gebrochen,
für uns wars ein großer Sieg.
Wir werden weiter marschieren,
bis alles in Scherben fällt.
[...] Denn heute gehört uns Deutschland,
und morgen die ganze Welt.1

Sie sangen den Text begeistert und schienen überzeugt. Sie spürten nicht, wie anmaßend und überheblich er war und wie schamlos man ihre Unerfahrenheit ausbeutete. Nicht einem kam in den Sinn, daß man sie eines Tages tatsächlich anhalten konnte, alles in Scherben zu schlagen, in ihrem "großen Krieg".

An der Spitze marschierte Hermann Schöller. Hermann, das waren marschierende Beine, das waren Stiefel, die das Pflaster klopften. Hermann, das war ein Fanatiker in engsitzender, schwarzer Uni- p.40 form mit Käppi, dem wahrscheinlich die Mädchenherzen zuflogen, obschon er sich aus ihnen nichts machte. Hermann, das war der selbst ernannte Aufpasser vom Dienst, dem die Prüfung der Gesinnung oblag. Am Sonntag stand er in der Kirche, natürlich in Jungvolkuniform. Plötzlich, während der Predigt, drehte er sich schroff um, hämmerte sein Bekenntnis auf die Kirchenfliesen, damit auch der Unaufmerksamste merkte: Jetzt rennt er zur Gestapo. Jetzt zeigt er den Prediger an. Sein Eifer und sein Haß kannten keine Grenze. Manchmal schüttelte sogar Kommissar Strelow von der Geheimnen den Kopf über soviel Unduldsamkeit.

Sein Schritt stampfte einen unüberhörbaren Rhythmus. Er dröhnte: Haß! Feindschaft! Unwillkürlich zuckte ich zusammen. Ich war seit einigen Wochen so etwas wie Hermanns Gegenspieler. Jeden Morgen, vor Beginn des Unterrichts, standen wir, die Arme emporgereckt, und sangen nach der Nationalhymne:

Vorwärts! Vorwärts!
schmettern die hellen Fanfaren.
Vorwärts! Vorwärts!
Jugend kennt keine Gefahren.

Sooft ich "Vorwärts!" sang, hörte ich Hermanns Schritt auf dem Pflaster; aber es hieß nicht mehr "Vorwärts", sondern "Tod! Untergang!" Das wollte er. Er marschierte an der Spitze der Kolonne. Sie zogen mit ihrem Lied durch die Straßen. Deutschland sollte eingestimmt werden auf das, was ihm bevorstand.2

Dabei war das nur eine Art Vorgeschmack. Die lyrisch verbrämte Aussagekraft konnte noch gesteigert werden. Schöller kommandierte auf einmal schneidend: "Lied aus!" Er hatte entdeckt, daß ich in Sichtweite geriet. Wie aus einem Munde brüllten plötzlich dreihundert Jungvölkler:

Haut se, haut se,
haut se auf de Schnauze!
Haut se mit vergnügtem Sinn
mitten in die Fresse rin!
Haut se, haut se,
haut se auf'n Ballon!

So wurden alle begrüßt, die auf der Abschußliste standen. Ich gehörte zu ihren Lieblingen, weil ich die neudeutsche Gruppe führte. Karl Beiß hatte die Führung nach seinem Abitur an mich über- p.41 geben; während des Krieges Regimentskommandeur und Ritterkreuzträger3, arbeitete er nachher als Manager einer Weltfirma.

Neudeutschland existierte erstaunlicherweise noch; nach der Machtübernahme, nach der "Gleichschaltung" von Parteien und Gewerkschaften im Frühjahr 1933 wurden die Jugendbünde, allen Erwartungen zu Trotz, nicht aufgelöst und verboten. Wahrscheinlich rechnete man mit schnellen, geschlossenen Übertritten zur Staatsjugend und versprach sich mehr von freiwilliger Mitgliedschaft. Nach dem Abschied von Karl erfreute ich mich Hermann Schöllers besonderer Aufmerksamkeit. Daß das Lied, das er sofort anstimmte, sobald er meiner ansichtig wurde, auf mich gemünzt war, unterlag keinem Zweifel; denn wem ich seinem Blickfeld entschwand, schaltete er auf eine mildere Gangart zurück. Ich kann nicht behaupten, daß ich unbedingt glücklich war über diese Behandlung. Ich empfand es auch nicht als angenehm, von erschrockenen Passanten ob dieser Gunstbezeigung verdutzt angestarrt zu werden. Doch mit der Zeit gewöhnte ich mich daran, und es erfüllte mich sogar mit einem gewissen Stolz, als eine Art Galionsfigur zu gelten.

"Galionsfigur" ist nicht übertrieben. Wir fühlten uns mehr und mehr wie auf einem Präsentierteller, Klaus Seimetz von der "Sturmschar" und ich. Im Juni fragte die lokale Parteizeitung, der "Westdeutsche Beobachter" in einem Bericht über das Sonnwendfeuer auf dem "Hohen Stein": "Es war ein erhebendes Gefühl, die jungen Deutschen so geeint zu sehen. Nur ein paar stehen noch abseits. Wo bleibt ihr, ihr Grüppchen von der Sturmschar und von Neudeutschland? Wie lange wollt ihr noch draußen bleiben? Der Führer braucht euch!"

In der Tat wollten wir "draußen" bleiben und uns nicht gleichschalten lassen, wenngleich sich die Anfeindungen und Bedrohungen von Monat zu Monat mehrten; je deutlicher ihre Unverschämtheiten wurden, um so unnachgiebiger wurden auch wir. Ich hätte den Widerstandswillen bis zum äußersten nicht aufgebracht ohne die Hilfe des Jesuiten Ludwig Esch4. Nach meinem Vater und nach Dr. Holtschmidt übte er sicher den stärksten Einfluß aus auf mich. Zum ersten Mal begegnete ich dem hochgewachsenen, glatzköpfigen Ordenspriester 1931 bei Exerzitien. 1934 sprach er zum Abschluß einer Tagung des neudeutschen Kaiser-Karl-Gaues auf dem Markt des Eifelstädtchens Monschau. Die metallene Stimme hallte wider von den Mauern p.42 des engen Gevierts. Auf der Soutane trug er das EK I des ersten Weltkrieges. Das beeindruckte nicht nur die Jungen, auch Erwachsene verhielten den Schritt; daß ein katholischer Priester diese Auszeichnung trug, war nicht alltäglich. Esch machte das bewußt; in der Tat ließen ihn die Nazis länger unbehelligt als andere. Das Auftreten dieses Mannes gefiel mir so ausgezeichnet, daß ich auf der Heimfahrt von Monschau zum ersten Mal den Gedanken erwog, selber Jesuit zu werden.

Noch aufmerksamer beobachtete ich ihn auf der Romreise Neudeutschlands 1934. Unsere neue Bundestracht durften wir erst nach Überschreiten der Grenze in der Schweiz anlegen. In der Audienz versicherte Pius XI. uns: "Euere Sache ist Unsere Sache"; Esch neben dem Papst, das imponierte mir: Während der Heiligsprechung Don Boscos am Ostersonntag reifte in mir der Entschluß, nach dem Abitur in Eschs Orden einzutreten.

Wenige Wochen später saß ich ihm in der Jesuitenresidenz in der Kölner Stolzestraße gegenüber. Ein Hauch von Mottenpulver störte mich, die Luft wirkte eingesperrt. Ein Foto auf dem Tisch fesselte mich, Kriegspfarrer Ludwig Esch neben Wilhelm II. "Ja, das muß ich dir erklären", lächelte er. "Das war 1917. Wir erwarteten eine Truppenbesichtigung durch den obersten Kriegsherrn. Generale, Offiziere, Truppen in Reihen angetreten, seit Wochen Regen. Als er erschien, brach die Sonne durch. Kaiserwetter. S.M. war sehr ernst, fast bedrückt. Blieb nirgendwo stehen. Doch als er mich erblickte, stockte er. Ich weiß bis heute nicht, warum; jedenfalls ließ er anhalten, reichte mir die Hand, wechselte ein paar Worte mit mir. Ausgerechnet mit einem Jesuiten! Es hat bei vielen bestimmt nicht reine Freude ausgelöst."

So war Pater Esch. Er stellte sein Licht nicht unter den Scheffel. Ich ertappte mich während unseres Gesprächs häufiger bei der Frage, wieso das Bild und der Bericht mich beeindruckten. Mein Vater, Pazifist und Republikaner, hätte kein Verständnis gehabt. Der Jesuit war stolz auf die Auszeichnung.

Ich kam von meinen Zweifeln nicht los. Nach dem Besuch in Köln überlegte ich, ob der Eintritt in die Gesellschaft Jesu für mich richtig war. Versteckte sich hinter Eschs Erlebnis während der Truppenbesichtigung nicht im Grunde dieselbe Haltung, die wir den Nazis vorwarfen? Äußerte sich darin nicht dieselbe Gesinnung, p.43 die blinde Anerkennung von Autorität und unbedingtem Gehorsam, wie das Dritte Reich sie verlangte? Bei den Exerzitien bemühte der Exerzitienmeister Esch oft den "obersten Kriegsherrn", dem unsere Treue gehöre, und die Augen der Zuhörer leuchteten. Als er über das Morgengebet sprach, erklärte er, der Heiland brauche keine Worte; es genüge, die Hacken zusammenzuschlagen und zu sagen: "Herr ich melde mich zum Dienst!" Natürlich, für Esch war der "oberste Kriegsherr" Jesus von Nazaret. Dennoch störte mich der Vergleich. Der "oberste Kriegsherr" des ersten und der des zweiten Weltkrieges schickte mir zu viele auf die Schlachtfelder und in die Gaskammern. Ich frage mich bis heute, ob der Jesuit Esch den Teufel mit Beelzebub austreiben, das heißt die Nazis mit ihren eigenen Waffen besiegen wollte, getreu dem angeblichen Motto seines Ordens, der Zweck heilige die Mittel, oder ob nicht doch auch er selber dem Zeitgeist allzu sehr verhaftet war.

In der zweiten Jahreshälfte 1934 verstärkten die Nazis den Druck auf die immer noch nicht gleichgeschalteten Jugendbünde spürbar. Sie erkannten, daß es falsch gewesen war, auf "Einsicht" zu setzen und freiwillige Überläufe zu erwarten. Hermann Schöller hielt es mit seiner Ehre für vereinbar, sich an einzelne meiner Gruppe heranzumachen und sie zum Übertritt zu bewegen. Eines Tages tauchte er sogar in unserem Heim auf, in der Hand ein Papier des Ortsgruppenleiters; nach diesem Schreiben, das durch nichts rechtlich abgesichert war, hatte er, der Jungvolkführer, auch die Veranstaltungen der übrigen Jugendorganisationen zu überwachen. Ich wollte unseren Heimnachmittag zuerst einfach ausfallen lassen. Sofort verwarf ich den Einfall wieder; es hätte wie ein Eingeständnis von Furcht oder von schlechtem Gewissen ausgesehen. Die Anwesenden spürten die Besonderheit der Lage. Sie übersahen den unerbetenen Gast geflissentlich und sangen unsere bündischen Lieder so hingebungsvoll, daß dem Besucher die Ohren klingeln mußten. Nicht ohne Hintergedanken stimmte ich schließlich "Wenn alle untreu werden, so bleiben wir doch treu" an, das ursprünglich die Niederländer in ihrem Freiheitskampf gesungen hatten, inzwischen aber längst zu unserem Trutz- und Bekenntnislied geworden war. Noch während des Gesanges empfahl sich Hermann Schöller ohne Verabschiedung. Er beehrte uns nie wieder.

Allerlei Lyrik. Beide Seiten machten also in Lyrik und gesungenem p.44 Protest. Während der Westmarktagung auf der Neuerburg in der Eifel stellten Aachener Neudeutsche ein Lied vor, das mir so gefiel, daß ich es aufschrieb und auch in meiner Gruppe singen ließ. Je öfter wir es anstimmten, um so großartig er fühlten wir uns. Keiner konnte voraussehen, daß es Arger verursachen und am Ende zum Zusammenbruch der Gruppe führen würde. Klar, daß der Text anfechtbar war und höheren lyrischen Ansprüchen keinesfalls genügte; auf meine Begeisterung für Hölderlin angesprochen, wäre ich verlegen geworden. Doch wir suchten gar keine Parallelen; auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil. Es handelte sich um eine Umdichtung des Landsknechtsliedes: "Wir traben in die Weite, das Fähnlein weht im Wind." Die erste Strophe lautete:

Wir traben in die Kneipe,
das Fähnlein steht im Spind.
Vieltausend mir zur Seite,
die auch verboten sind.
Das Fahrtenhemd im Schranke,
das Halstuch und der Hut,
die sagen Gott sei Danke,
nun haben wir es gut.

Bis zu dieser Zeile war der Inhalt nicht staatsgefährdend; aber in der zweiten Strophe wurde der Reichsjugendführer erwähnt, und damit war der Tatbestand des Hochverrates erfüllt. Baldur von Schirach hatte in einer Rede behauptet, die bündischen und konfessionellen Jugendverbände stünden kurz vor ihrer Selbstauflösung, ihre "kümmerlichen Reste" lohnten die Weiterarbeit nicht; er nannte die Zahl vierhunderttausend. Darauf nahm die zweite Strophe Bezug:

Die kümmerlichen Reste,
von denen Baldur sprach,
die stehen eisern feste
und treu zu ihrer Sach.
Nicht viermal hunderttausend,
Millionen sind wir noch.
Wir singen laut und brausend:
Wir hassen euer Joch.

Niemand erwartete, mit derlei Liedern das Regime aus dem Sattel heben zu können. Immerhin führte der einfältige Text noch 1935 beinahe zu einem Hochverratsprozeß, ein handfester Beweis dafür, p.45 daß bis weit in den Herbst dieses Jahres hinein längst nicht alle zu Kreuze gekrochen waren. Damals, im Oktober, nachdem ich meine Vaterstadt schon ein halbes Jahr verlassen hatte, entdeckte der Musiklehrer im Liederbuch eines Neudeutschen einen der Durchschläge des Liedes und hielt es für seine vaterländische Pflicht, die Gestapo einzuschalten. Am Schluß wurde die Gruppe wegen "staatsgefährdender" Umtriebe verboten; der betreffende Schüler, nach 1949 übrigens drei Legislaturperioden Mitglied des deutschen Bundestages, mußte das Gymnasium verlassen.

Wenngleich Hermann Schöller unser Heim jetzt mied, widmete er mir doch bis zuletzt ungeschmälerte Aufmerksamkeit. Auf diese Weise schaffte er es um ein Haar, mich von der mündlichen Abiturprüfung fernzuhalten. Deswegen vergesse ich den 8. März 1935 nicht. Es gehörte zur Tradition, daß der Unterricht für die übrigen Schüler an den beiden Prüfungstagen ausfiel. Ich setzte für die Gruppe eine Schnitzeljagd im Thönbachtal hinter Schevenhütte an. Zwar waren uns längst Veranstaltungen außerhalb des Heimes untersagt, ich hoffte jedoch, es bliebe unbemerkt, wenn sich die drei Fähnlein an verschiedenen Stellen sammelten und erst am Zielort trafen. Weil ich nach dem Plan als erster geprüft wurde und anschließend frei war, wollte ich auf dem Fahrrad nachkommen. Ich hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Schöller beobachtete zwei meiner Jungen und erstattete sofort Meldung.

Ich sah mir an diesem Morgen gegen halb acht im Wohnzimmer, das straßenwärts lag, noch einmal die griechischen Vokabeln für meinen Prüfungstext an und rekapitulierte mein Kurzreferat, das Sörensen vorgesehen hatte. Er nannte es hochtrabend "Temporalität im Griechischen", man könnte schlichter "Tempusbildung" sagen. Gegen diese Bevorzugung hatte ich geringere Bedenken, weil damit ja kein Mitschüler geschädigt wurde. Ich konnte mir diese Vorbereitung noch leisten, weil der Weg zur Schule kaum zehn Minuten beanspruchte.

Plötzlich klingelte es. Ich erspähte durch einen Spalt des Vorhangs zwei Männer mit Ledermantel und in die Stirn gezogenem Hut. So tarnten sich in jenen Jahren Gestapobeamte. Meine Mutter, die mich auf dem Weg zum Gymnasium glaubte, öffnete. Sie fragten nach mir. Auf ihre Antwort, ich habe das Haus bereits verlassen, erwiderten sie nichts und verschwanden.

In mir überschlugen sich die Gedanken. Wie gelangte ich ungescho- p.46 ren zur Schule? Wenn sie mir unterwegs auflauerten, konnte ich das Abitur in den Kamin schreiben. Ich erreichte die Penne ungestört. Dort herrschte die übliche Prüfungsatmosphäre. Von meiner Spannung ahnte niemand etwas.

Ein Glück, daß ich mit dem Griechischlehrer handelseinig war, zu einer echten Eigenleistung wäre ich wahrscheinlich außerstande gewesen. Auch das Wissen in Vererbungslehre genügte der Kommission. "Es reicht", erklärte der Direktor, "Sie haben bestanden." Es war mir nicht entgangen, daß der Hausmeister ihm einen Zettel zugeschoben hatte. "Aber Sie sollen von hier aus zur Polizei kommen. Kommissar Strelow erwartet Sie."

Dieser behandelte mich zuvorkommender, als ich befürchtete. Es drehte sich in der Tat um das verbotene Treffen. "Sie wissen doch, daß nur Heimveranstaltungen erlaubt sind", tadelte er. Ich übernahm die Verantwortung, um die Fähnleinführer nicht zu gefährden. Sollten sie mich bestrafen, das Abitur konnten sie mir nicht mehr nehmen. Die Gerichtsverhandlung fand erst Monate später statt. Sie wurde niedergeschlagen, weil ich, der Schuldige, inzwischen im Ausland weilte.

So machte man 1935 Abitur, so endete meine Schulzeit. Trotz unablässiger Bemühung erreichte Hermann Schöller sein Ziel nicht. Vorher hatte man uns allerlei Lyrik aufgetischt, plötzlich war sie nicht mehr gefragt. Seis drum! Besonders lyrisch war mir nach solchen Aufregungen sowieso nicht zumute.