Josef Eschbach:

Nicht allein wider den Strom

Zwölf besondere Jahre im Leben eines unbesonderen Menschen

Autobiografisches Manuskript von Josef Eschbach

Transkribiert, annotiert und herausgegeben von Haro von Laufenberg, 2018

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3. Die übrigen Pauker

p.24 1934 verunglückte mein Klassenkamerad Heinz Wiemes auf einer Fahrt zwischen Andernach und Weißenthurm, als er, zwischen einem Laster und dem Anhänger fahrend, vom Fahrrad gerissen und zermalmt wurde. Drei Mitschüler und ich trugen den Sarg von der Friedhofskapelle zum Grab. Mir ging, während der Eisengriff sich in mein Handinneres bohrte und eine Amsel auf einer Birke sang, der Text der Todesanzeige nicht aus dem Kopf, mit der der Vater, Gerichtsvollzieher, vor 1933 SPD-Wähler, den Tod seines Sohnes mitgeteilt hatte. Es hieß da unter anderem: "Er starb im Frühling seines Lebens, mitten im deutschen Frühling."

Frühling des Lebens. Deutscher Frühling. Was dachte sich ein Mann wie Herr Wiemes, was dachte sich das sogenannte deutsche Bildungsbürgertum jener Jahre, wenn sie derlei Begriffe verwendeten? Dachten sie tatsächlich? Oder schwätzten sie vielmehr nur nach, was inzwischen in gewissen Schichten Mode geworden war? Schwammen sie bloß mit in einem Strom, der Deutschland 1934 überschwemmte? Bis zur Machtübernahme 1933 hatten die Nationalsozialisten die Leute im Westen kaum interessiert, höchstens ab 1930 ihre erdrutschartigen Wahlerfolge. Der 30. Januar bedeutete für eine Reihe von ihnen vielleicht sogar einen Schock. Aber einen vorübergehenden. Es passierte ihnen ja nichts. Ihr Alltag gestaltete sich wie vorher. Gewiß, die Neuen nannten sich Arbeiterpartei; sozialistisch dazu. Doch Bürgerliche konnten sich angenehm mit ihnen arrangieren. Auch beruflich änderte sich für den nichts, der sich nicht unbedingt zum Bekenner zu stilisieren wünschte. Und wer bezweckte das ernsthaft? Spätestens 1934 hatte man sich eingerichtet. Hinzu kam, daß die Nazis allerhand bewegten. Man muß die Feste feiern, wie sie fallen. Sie fielen recht günstig. Wenn man von dem Außenseiter Röhrn und seinen Gesinnungsgenossen absah. Man war etwas zu lange nachsichtig gewesen mit ihrer Abartigkeit. Das hatte der Führer jetzt gründlich nachgeholt. Selbst der Tod des Reichspräsidenten von Hindenburg änderte nichts. Jetzt hatte nur noch ein Einziger das p.25 Sagen.

Solcherart Gedanken beschäftigten mich auf dem Gang zum Grab, und sie verstärkten sich, als der Sarg hinabgesenkt war und die Leidtragenden hintereinander an die offene Grube traten, um ein Schäufelchen Erde hinabpoltern zu lassen. Gerade trat unser Turnlehrer nach vorn, der Direktor folgte ihm. Was waren das für Leute, die den Eltern kondolierten? Was für Lehrer, die die Kinder dieses Anpassungs-Bürgertums unterrichteten? Sie konnten sich doch nicht wesentlich unterscheiden von ihren Mitbürgern, die sich so vorzüglich zu arrangieren verstanden.

In dem Buch "Der Vater eines Mörders", in dem er von einem Münchener Gymnasium berichtet, stellt Alfred Andersch provokatorisch die Frage: "Schützt Humanismus denn vor gar nichts?" Er zieht zwar die Linie vom Humanisten zum Massenmörder nicht ausdrücklich, doch der Direktor, den er schildert, hieß Himmler und war der Vater des Reichsführers der SS. Die Schlußfolgerung liegt auf der Hand und ist gewollt.

Nun möchte ich mich dafür verbürgen, daß von all unseren Erziehern nicht ein einziger zum Massenmörder taugte, wenn man Studienrat Neuenfeld ausnimmt, von dem ich jedoch nie unterrichtet wurde und der auch bald die Schule verließ, um in einer größeren Stadt rasch auf der Karriereleiter hinaufzuklettern. Wer ihn näher kannte, behauptete, er sei zu allem fähig, wenn es in den Kram passe. Die übrigen Pauker konnten wahrscheinlich nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun. Ich möchte meinen, daß sie ihr sogenanntes humanistisches Ideal nicht verrieten, daß sie also mit anderen Worten ihre Seele nicht verkauften.

Bloß, reichte das in dieser Zeit aus? Man sollte nicht alle in einen Topf werfen, und es gab neben Holtschmidt sicher noch den einen und andern, der es wagte, auch öffentlich Flagge zu zeigen. Doch ist andererseits nicht zu übersehen, daß die Mehrzahl eine erstaunliche Fähigkeit bewies, nicht aufzufallen und sich über die Runden zu retten. Es stimmt doch nachdenklich, daß außer dem Vorgänger des jetzigen Direktors, Dr. Franz Ewald, alle die tausend Jahre überstanden.

Dieser Dr. Ewald, Vater besonders intelligenter Söhne und Verfasser pädagogischer Fachbücher, war nicht lange nach der Machtübernahme ohne besondere Erklärungen abgelöst worden. Wir hatten den p.26 spritzigen, etwas saloppen Mann und seinen legeren Unterricht gemocht, auch wenn er montags ziemlich regelmäßig mit auf links gedrehten Socken und schmutzigen Hemdkrägen in der Klasse erschien. Er galt vielen als Außenseiter, der zu der eingebildeten Schickeria der Stadt nicht paßte. Äußerer Anlaß seiner Beseitigung, so wurde hinter vorgehaltener Hand geflüstert, war seine vorlaute Äußerung zu vorgerückter Stunde, er sei und bleibe Sozialdemokrat. Ich denke, bei den Verantwortlichen stand er längst auf der Abschußliste, weil man begriff, daß er jemand war, der sich niemals umkrempeln ließ und auf die neue Linie einschwenkte. In eindeutigen Fällen machten sie kurzen Prozeß.

Bei seinem Nachfolger hielt man "Einsicht" trotz voraufgegangener Unbotmäßigkeit für möglich. In der Tat ließ er sich sehr bald nach seinem Dienstantritt vor den offiziellen Karren spannen. Da sich der Zulauf zur Staatsjugend, zuerst noch freiwillig, wider Erwarten in Grenzen hielt, startete man über die Schulen eine umfassende Werbekampagne. Auf dem riesigen Kasernenplatz, der in den ersten Jahren noch zivilen Zwecken diente, fand eine Kundgebung statt, zu der sämtliche Schüler verpflichtet wurden und auf der die Direktoren und Rektoren sprachen. Nun litt die Veranstaltung mit mehreren tausend Teilnehmern unter dem peinlichen Mangel, daß die Lautsprecheranlage nicht funktionierte. So war von allen Punkten des Platzes aus zwar zu beobachten, daß die Redner ihre Sprechwerkzeuge betätigten und sie mit mehr oder weniger aufgeregten Gesten unterstützten. Bloß hörte man kein Wort. Deswegen nimmt es nicht wunder, daß man rasch jegliches Interesse verlor und sich irgendwie über die nutzlos vertane Zeit hinweghalf.

Diese Situation änderte sich für uns Pennäler schlagartig, als unser neuer Direx an die Reihe kam. Seine Stimme drang so wenig durch wie die seiner Vorredner. Aber er erfreute sich einer so ausgefallenen Art, beim Sprechen sämtliche Gesichtsmuskeln zu verzerren, vor allem, wenn er besonders wirkungsvoll ankommen wollte, daß man unmöglich unbeteiligt bleiben konnte; entweder mußte man versuchen, doch ein wenig zu verstehen, oder man geriet unweigerlich ins Grinsen. Man muß sich das auch vorstellen: Von seiner irren Anstrengung wurde nichts hörbar, nur die Pantomimik erreichte uns; auf diese Weise glich die Darbietung einem p.27 verunglückten Kasperletheater. Es verrät natürlich keinen Edelmut, daß .wir seinen Einsatz geringschätzten und darüber spotteten; zu lächerlich jedoch erschien uns das Symptomatische, das Zwiespältige dieser erbärmlichen Vorstellung. Hier priesen an sich respektable Schulmänner mit hohlen Gesten etwas an,was in sich selber hohl war.

Niemand wird sich wundern, wenn sich bei mir jedesmal die Erinnerung an diese Szene wieder bei mir einstellte, sooft ich mit dem Direktor zu tun bekam. Erneut sah ich ihn mit Armen und Beinen heftig gestikulieren und den Mund aufreißen, ohne daß ein Laut oder ein Wort herauskamen. Das Allerschlimmste war, daß ich nach allem, was aus seiner Tätigkeit in Ratingen durchsickerte, von der Echtheit seines Engagements nicht überzeugt sein konnte. Um im Staatsdienst zu bleiben, mußte er eine Bewährungsprobe bestehen, eine Rolle spielen; entweder spielte er mit, oder er zog die Konsequenz. Das letztere zeitigte Folgen, für ihn und seine Familie. Dazu fehlten ihm Mut und Entschlußkraft. Man soll ja nicht annehmen, daß er der einzige war, den die Nazis in derartige Gewissenskonflikte stürzten. Hin- und hergerissen von Pflicht und Verantwortungsgefühl auf der einen und von der Achtung vor sich selbst auf der anderen Seite, erlagen die meisten der Versuchung, machten sich aber gleichzeitig Vorwürfe.

Als einen Versuch, sich aus dieser seelischen Erniedrigung ein wenig zu lösen und einen letzten Rest von Selbstachtung zu beweisen, werte ich das Verhalten des Direktors in der Frage meines Abituraufsatzes. Zugegeben, seine fast ultimative Lösung wirkte wie eine Bevormundung und stellte Dr. Holtschmidt und mich praktisch vor vollendete Tatsachen. Aber er meinte es im Grunde ehrlich und wollte uns Schwierigkeiten ersparen, die er selber kennengelernt hatte. Er hätte nämlich viel heimtückischer vorgehen und sich damit höheren Orts sogar profilieren können. Er brauchte nur Holtschmidts Prädikat zu lassen und die Arbeit, mit einem entsprechenden Kommentar von ihm, nach Koblenz weiterzuleiten. Er hätte damit seine staatspolitische Loyalität bewiesen, allerdings auch den Deutschlehrer und mich in umso ärgere Bedrängnis gebracht.

Aufschlußreich übrigens finde ich, daß der Direktor selber sein Vorgehen für höchst menschenfreundlich hielt und sich dabei so- p.28 gar wie einer der vierzehn Nothelfer und wie ein Wohltäter vorkam. Es handelte sich bei mir mit Sicherheit nicht um den einzigen Fall, den er auf ähnliche Weise löste und so eine Gefahr entschärfte. Ich fürchte, er hat über dieser Funktion mehr und mehr verdrängt, wie sehr ihm in Wirklichkeit die Hände gebunden waren; er wurde im Grunde zu einer Marionette degradiert, die auszuführen hatte, was eine ausgeklügelte, unmenschliche Staatsmaschinerie verlangte. Ich. komme zu dieser Beurteilung, weil er nach dem Zusammenbruch in vielen Gesprächen beredt versuchte, sein Verhalten in diesem Sinne zu rechtfertigen und in einem vorteilhafteren Lichte erscheinen zu lassen. Er hatte seine Erinnerungen schriftlich festgehalten und bemühte sich, diese Lebensbeichte sogar in Buchform herauszubringen. Seine Frau bat mich, ihr zu helfen, das Erscheinen zu verhindern; es gelang uns einige Zeit. Am Ende wäre ihm eine Publikation dennoch geglückt, wenn nicht sein unerwarteter Tod alle Pläne zunichte gemacht hätte.

Für mich enthüllt sich an diesem Manne die Tragik, in die das Dritte Reich die ihm verfallenen, etwas schwachen Menschen automatisch verstrickte. Kaum gaben sie an irgendeiner Stelle nach, wurden sie sofort derart in Lüge und Heuchelei hineingezogen, daß es keinen Ausweg mehr gab. Man muß zwar Verständnis und Mitleid aufbringen für diese außerordentliche Situation. Aber konnten Menschen wie dieser Direktor, der mit den Wölfen heulte,auch wenn er seiner Meinung nach Schlimmeres damit verhütete, Vorbild sein für die junge Generation, die Geradlinigkeit und Mannesmut erwarten?

Sobald ich mir freilich Dr. Riese als Alternative zu ihm vor Augen führe, dem einzigen Pauker, der während der tausend Jahre keinen Aufnahmeantrag stellte in die Partei und in seiner Tätigkeit dennoch unbehindert blieb, gerate ich in arge Gewissensnot. Dieser Mann war weder Fisch noch Fleisch; man durchschaute nicht, war er für die Nazis oder gegen sie. Er war ohne Gesicht; er erschien sogar den Machthabern so gesichtslos, daß sie sich nicht veranlaßt fühlten, sich mit ihm zu beschäftigen. Dabei machte er, was seine Figur anlangt, seinem Namen Riese alle Ehren; er galt zu Recht als Größter und Gewichtigster des Kollegiums. Ich argwöhne allerdings, daß die geistige Bedeutung dem nicht entsprach. 1945 brauchte er als einziger nicht "überprüft" zu werden und wurde p.29 als erster wieder eingestellt.

Von völlig entgegengesetztem Zuschnitt zeigte sich Dr. Conrads1, der einzige Protestant unter den Paukern. Er hatte lange vor 1933 schon für den VDA, den "Verein für das Deutschtum im Ausland", erfolgreich geworben und eine Gruppe von Schülern um sich gesammelt, für die er in der damaligen Zeit beachtliche Auslandsreisen organisierte. Sein VDA, lange die einzige Jugendgruppe an der Schule, geriet 1932 in natürlichen Gegensatz zu "Neudeutschland", das Karl Beiß neu gründete. Die Gruppe "Parzival" hatte schon früher unter Theo Kniebeler, der später als Kriegspfarrer in einem Strafbataillon fiel, bestanden, war jedoch nach seinem Weggang zerfallen.

Die Neugründung stieß verständlicherweise auf den Widerstand von Dr. Conrads. Ich schloß mich Karl Beiß begeistert an und erhielt den Auftrag, eines der "Fähnlein" zu werben. Also verfaßte ich ein Schreiben an die Schüler der mir zugedachten Klasse, in dem ich erklärte, Neudeutschland sei eine "katholische, deutsche Jugendbewegung". Die Reihenfolge der Adjektive störte den VDA-Chef. Er benutzte eine Vertretungsstunde bei uns, mich zu stellen und zu verunsichern. Er vertrat die Auffassung, dem "Deutschen" gebühre absoluter Vorrang und die Konfession spiele eine Nebenrolle. Ich weiß, ein Streit in dieser Frage wirkt heute völlig antiquiert und müßig; ich schildere ihn auch nicht, um ihn neu zu aktualisieren, sondern um die Positionen von damals deutlich zu beschreiben. Ich verteidigte die Gegenthese auf das hartnäckigste und leidenschaftlichste, schon aus bloßem Widerspruchsgeist, aber auch aus tiefer Überzeugung, und verhielt mich uneinsichtig und unversöhnlich. Ich hielt meinen Glauben für ungleich wichtiger als meine Nationalität. Wenngleich ich heute noch, sollte ich zu einem Bekenntnis gezwungen werden, dieselbe Wertung vornehmen würde wie damals, vermag ich dennoch heute einzusehen, daß ich seinerzeit unfähig war, meinen Kontrahenten gerecht zu beurteilen. Ich war viel zu einseitig erzogen und in ein derart starres Denkschema eingepaßt, daß mir die Voraussetzungen fehlten, um nachvollziehen zu können, warum jemand wie Heinrich Conrads aufgrund seiner Voraussetzungen gar keine andere Auffassung vertreten konnte.

Für noch gefährlicher als diese Einseitigkeit halte ich heute p.30 mein Vorurteil, jemand mit dieser Grundanschauung gehöre schon von daher zu den Nazis. Den Unterschied zwischen "national" und "nationalsozialistisch" hatte mein Vater mir nicht genügend verdeutlicht, wahrscheinlich kannte er ihn selber nicht genau oder wollte ihn nicht kennen. Freilich sollte nicht unerwähnt bleiben, daß die Unterscheidung seit dem 21. März 1933, dem Tag von Potsdam, nicht mehr so leicht fiel, nachdem der Diktator die beiden Begriffe in der Garnisonkirche, vor den Särgen Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II., unzulässig und mit Absicht durcheinandergeworfen und vermengt hatte. Dr.Conrads kannte die Unterschiede durchaus; er gehörte zu denen, die, zwar behutsam und ohne viel Aufhebens, darauf hinwiesen. Er gab seine Gesinnung nicht ab wie ein Kleidungsstück an der Garderobe.

Weil ich in der Kontroverse auf meinem Standpunkt beharrte, regte er an, die Streitfrage ebenfalls im Religionsunterricht zur Sprache zu bringen. Wir durften nämlich für eine Stunde pro Woche die Themen selber aussuchen. Ich habe schon dargelegt, wie unkritisch der Religionslehrer sich zum Reichskonkordat geäußert hatte. Auch hier wußte er alle Klippen geschickt zu umschiffen. Er entschied salomonisch und meinte, biologisch sei Dr.Conrads im Recht, denn als erstes würden wir als Deutsche geboren, ob es uns gefiele oder nicht; erst danach mache die Taufe uns gegebenenfalls zu Christen. Gerade weil das chronologisch stimmte und keinen Widerspruch zuließ, empörte ich mich. Ich wollte von einem Theologen keine spitzfindige Stellungnahme, bloß um jeder Seite gefällig zu sein. Ich wünschte bekenntnishafte, wenn auch gefährliche Aussagen. Ausflüchte jeder Art erlebten wir zuhauf. Wenn schon die berufenen Glaubensverteidiger sich an eindeutigen Stellungnahmen vorbeimogelten, wer sollte dann die Dinge beim Namen nennen?

Adam, unser Kunsterzieher und Zeichenlehrer, hätte für derlei Haarspaltereien nur ein mildes Lächeln gehabt. Wir wohnten Jahre hindurch auf der Schützenstraße nebeneinander, ich konnte ihn weit über seine Tätigkeit in der Schule hinaus beobachten. Von Natur und Veranlagung aus eher von bescheidenem, fast kindlichem Gemüt, galt er schon seit längerem als ein talentierter, überdurchschnittlicher Gestalter, dessen Werke, vornehmlich Federzeichnungen und Aquarelle, auch außerhalb der Stadt wachsen- p.31 de Zustimmung erfuhren. Den Künstler Bachmann möchte ich überhaupt nicht in Frage stellen. Was mich mitunter abstieß, war seine übertriebene Empfindlichkeit; aus kleinen Verhältnissen emporgestiegen, bildete er sich häufig ein, unter Wert behandelt zu werden. Amüsiert erinnere ich mich seines Zornes, dem er ungehemmt freien Lauf lief, als eine Zeitung anläßlich einer Ausstellung anmerkte: "Die Preise sind, dem künstlerischen Wert entsprechend, niedrig gehalten." Nie erlebte ich ihn entrüsteter. Natürlich konnte man die Notiz mißverstehen. Doch jeder, der die Bedeutung Adams kannte und die Harmlosigkeit des Lokalreporters, begriff, was gemeint war: daß nämlich der Preis der Bilder, gemessen an ihrer Qualität, gerechtfertigt sei. Er jedoch veranstaltete einen unvorstellbaren Aufruhr, verwickelte jeden, den er erwischte, in eine Diskussion und gab keine Ruhe, bis er auch dem letzten erläutern konnte, wie man die Bemerkung zu verstehen hatte. Selbstverständlich muß man Herabsetzungen abwehren. Aber Übertreibungen stören, und kleinliches Beleidigtsein paßt nicht zu einem wahrhaft Großen.

Dabei galt Adam Alkoholischem gegenüber keineswegs als Kostverächter. Die Abschiedszeremonien von der jeweiligen Abiturientia entwickelten sich im Lauf der Jahre zur Tradition. Da wir, wie erwähnt, lange nebeneinander wohnten, genoß ich jedesmal das Vergnügen, die feierliche Verabschiedung vor seiner Wohnung vom Schlafzimmerfenster aus mitzuerleben. Etwa gegen vier Uhr am Morgen wachte ich auf von dem Stimmengewirr, das die Abiturienten auf der Straße mit Adam verursachten. Sie durften ihn seit der feuchtfröhlichen Feier bei Wantzen duzen und geleiteten ihn, nachdem er als einziger der Lehrer übriggeblieben war; in seine heimischen Gefilde, nicht selten auf einer Schubkarre. Zur Tradition gehörte auch der Empfang, den Berta Bachmann, die Gattin und Mutter seiner beiden Söhne, dem Heimkehrer bereitete. Dieser Augenblick wurde zum unbedingten Höhepunkt.

Als ich 1935 Abitur machte, wohnten Bachmanns nicht mehr auf der Schützenstraße; sie hatten eine der Kaplaneien auf der Grabenstraße erworben. Als gleichwertigen Ausgleich für den Verzicht auf die traditionelle Verabschiedung lieferte er bereits während des Kommerses eine unvergessene Szene. Wir waren am Morgen, wie von der nazistischen Prüfungsordnung vorgeschrieben, außer im p.32 Wahlfach alle in Biologie vorgenommen worden; dabei war auch der Begriff "Eineiige Zwillinge" zur Sprache gekommen. Diese neue Erfahrung beflügelte Adam derart, daß er bis lange nach Mitternacht von nichts anderem redete und allmählich jedermann auf die Nerven fiel. Um ihn mundtot zu machen, zog Hans Fischer ihm den Hut, den er merkwürdigerweise in der Gaststätte trug, über die Augen. Statt zu verstummen, führte er jetzt muntere Selbstgespräche.

Wenige Monate vor Kriegsende erfuhr ich, daß kurz hintereinander seine beiden Söhne gefallen waren. Über den Verlust des ersten kam er noch mühsam und mit fast selbstzerstörerischen Vorwürfen hinweg. Als der Tod des zweiten bekannt wurde, fürchtete man ein paar Tage ernsthaft um seinen Verstand; unvorstellbaren Ausbrüchen folgte stumpfes, gleicherweise unerträgliches Vorsichhinbrüten. Er malte Dürers "Ritter, Tod und Teufel" nach, gab dem Ritter die Fratze des Diktators, zeichnete ihm das Hakenkreuz auf die Brust und schrieb darunter: "Für Max und Willi Bachmann! Sie starben für den Irrtum ihres Volkes." Er, der es geschickt vermeiden konnte, während der Gewaltherrschaft Farbe zu bekennen, ließ alle Rücksichtnahme außer acht, als er sich persönlich. getroffen sah. Nur die buchstäblich über Nacht verfügte Evakuierung vereitelte die Strafverfolgung, der "Heldentod" der Söhne hätte ihn nicht geschützt.2

Auch unser Turn- und Sportlehrer Benno Flößer würde die Unterstellung zurückweisen, ein Nazi gewesen zu sein, nach seinem Verständnis sogar zu Recht. Er machte nie gemeinsame Sache mit den Regierenden. Dennoch halte ich ihn für einen der gefährlichsten Erzieher an der Schule, weil er, bewußt oder unbewußt, Thesen vertrat, die den Nazis direkt in die Hände arbeiteten und den Opfergang des Volkes 1939 rechtfertigten. Offenkundig war der erste Weltkrieg sein zentrales Erlebnis gewesen, das er innerlich nie überwand. Denn er hielt den Krieg für einen Erzieher, ja, für den besten Erzieher, der sich denken läßt. Vor der Machtübernahme merkten wir nichts davon, vielleicht erschienen wir ihm auch noch zu grün für seine hehren Gedankengänge. Nach 1933 verging keine Stunde bei ihm, in der er nicht, eine sportliche Leistung hochspielend, seine Auffassungen an den Mann zu bringen suchte. Für ihn produzierte nämlich der Krieg Werte, p.33 die er für die wichtigsten hielt; ja, seiner Auffassung nach wurden diese "Tugenden" erst im Krieg freigesetzt.Er meinte "preußische" Tugenden wie Kameradschaft, Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Standfestigkeit, Durchhaltevermögen. Es handelt sich um jene Tugenden, die ein Teil der Deutschnationalen bis heute verteidigt. Sie sorgten sich nach dem "Tag von Potsdam" über die unzulässige Vermischung von Preußentum und Faschismus, weil sie die Begriffe für Grundwerte halten, und bis heute gibt es nicht wenige, die immer noch nicht überblicken, daß das allenfalls Sekundär-Tugenden sind, mit denen man zwar, um ein krasses Beispiel zu wählen, die Leitung eines KZ rechtfertigen, nie jedoch junge Menschen erziehen kann.

Die ganze Lächerlichkeit des "preußischen Philosophen" Flößer enthüllte sich augenfällig an einem Vormittag, an dem er Aufsicht führte und von Klassenraum zu Klassenraum eilte, um zu überprüfen, ob die Schüler die Pause weisungsgemäß auf dem Hof verbrachten. Unsere damalige Klasse, die Obersekunda, aus Raummangel im Dachgeschoß untergebracht, im Schülerjargon "Hotel zur schönen Aussicht", von den Frankophilen "Hotel Bellevue" genannt, galt wegen ihrer verborgenen Lage als einigermaßen sicherer Zufluchts- und Aufenthaltsort. Auch während dieser Pause saßen fünf oder sechs Obersekundaner hier, einzig ich besaß als Klassenbuchführer die Berechtigung dazu. Kaum meldete der Späher Flößers Nahen, da verschwanden die Übeltäter in dem Dreieck, das die nach innen geöffnete Tür und die Wand bildeten.

Benno erschien und stand breitbeinig im Eingang der Klasse; er blickte mich, der sich eifrig mit dem Klassenbuch zu schaffen machte, durchbohrend an und fragte unheilverheißend, wo diejenigen wären, deren Stimmen er soeben deutlich vernommen hätte. "Sie müssen sich verhört haben, Herr Studienrat", antwortete ich erstaunt, "hier ist niemand außer mir." Ich schluckte ob meiner Lüge, mußte ich doch damit rechnen, daß der Schwindel aufflog, wenn auch nur einer der Versteckten sich nicht ernstzuhalten vermochte. Benno stand eine Armlänge entfernt und brauchte bloß die Tür zurückzuziehen.

"Keiner soll versuchen, mich hinters Licht zu führen", warnte er, zutiefst von sich überzeugt. "Ich war fünf Jahre im Krieg. Wer durch den Krieg geprägt ist, läßt sich von niemandem etwas vorma- p.34 machen. Würdevoll verschwand er. Ich blickte ihm betreten nach. Nicht, daß ich ihn angeschwindelt hatte, quälte mich besonders; seine Einstellung entsetzte mich. Das vom Krieg war nicht so einfach dahingesagt. Wieso er von fünf Jahren Krieg sprach, obgleich dieser nur vier dauerte, weiß ich bis heute nicht. Es verblaßte ohnehin hinter seiner unsinnigen Ansicht, Krieg fördere den Menschen, da er Tugenden zeuge, auf die man sonst verzichten müsse. Wenn ein Erzieher 1933 und danach nicht begriff, daß er mit solchen Thesen Wasser auf die Mühlen der berufsmäßigen Kriegstreiber goß, konnte man die ihm Ausgelieferten nur bedauern. Immerhin zog Benno Flößer Konsequenzen aus seiner Meinung über den Krieg; er meldete sich 1939 freiwillig und fiel bereits in Polen.

Geradlinigkeit war dagegen bei Kurt Sörensen, unserem ersten Altphilologen, nicht festzustellen; er entpuppte sich im Gegenteil mehr und mehr als der Prototyp des Anpassers. Keiner verstand es so geschickt, in allen Sätteln zu reiten, keiner so elegant den Weg des geringeren Widerstandes einzuschlagen wie er. Ich wählte als Wahlfach im Abitur Griechisch. Das geschah nur zum kleineren Teil auf Wunsch der Mitschüler, die mich dazu drängten, weil wir nicht riskieren wollten, daß einer in diesem Fach unvorbereitet geprüft wurde. Ich fügte mich vor allem, weil ich mir von Sörensen massive Unterstützung erhoffte; es war ein offenes Geheimnis, daß er seine Schützlinge nicht hängen ließ, freilich weniger ihrer selbst wegen, sondern um selber in umso günstigerem Licht zu glänzen. Die Erwartung trog nicht.

Daß er aus allem und jedem Kapital zu schlagen wußte, brachte ihn allerdings einmal in arge Verlegenheit. Willi und ich kamen im mündlichen Unterricht bei ihm verhältnismäßig leicht mit; unsere Noten in den schriftlichen Klassenarbeiten jedoch lagen jeweils um einen bis zwei Punkte hinter denen von Hans Heinsberg und seinem Intimus Hans Fischer zurück. Unser Argwohn steigerte sich von Mal zu Mal, doch wir bekamen nichts Verwertbares in die Hand. Überraschend tauchten die beiden eines Nachmittags bei mir auf; sonst pflegten wir so gut wie keinen Kontakt. Sie behaupteten, sie kennten den Text der griechischen Arbeit vom folgenden Tag. Ich muß sie so verdutzt und ungläubig angestarrt haben, daß sie beschworen, auch früher schon im Besitz der Texte gewesen zu sein. Bisher p.35 hatten sie einen PONS (pons = Brücke)3 benutzt, eine gedruckte Übersetzung, mit deren Hilfe deutsche Gymnasiasten schon seit einem knappen Jahrhundert ausgestorbenen Fremdsprachen zu Leibe rücken. Doch diesmal staken die zwei in einer Klemme, denn sie entdeckten in der Eile die Quelle nicht. In ihrer Bedrängnis besannen sie sich auf mich; da ich als guter "Grieche" galt, sollte ich die Übertragung besorgen. "Es wird dein Schaden nicht sein", versicherte Hans Heinsberg gönnerisch.

Mir schossen hundert Bosheiten durch den Kopf. Wer hatte ihnen den Text zugängig gemacht? Mir fiel ein, daß Sörensen neben den Heinsbergs wohnte. Außerdem erinnerte ich mich eines Gemunkels, demzufolge Sörensen im Jagdgefolge des Vaters gesehen worden war. Dieser, im Zivilberuf Großkaufmann in Pharmaka, bekannt als passionierter Jäger, besaß ein ansehnliches Blockhaus in einem schönen Revier. Vorher davon unberührt, witterte ich plötzlich Zusammenhänge. Eine Hand wäscht die andere. Weidmannsheil, Weidmannsdank.

Ich ärgerte mich so, daß ich meine Besucher am liebsten vor die Tür gesetzt hätte. Doch was brachte es? Sie würden alles ableugnen. Also machte ich gute Miene zum bösen Spiel, übersetzte, so gut ich es konnte, und rannte nachher sofort zu Willi. Wir hielten Kriegsrat und verabredeten Stillschweigen bis zum nächsten Morgen.

Die Texte stimmten wirklich überein. Nach der Niederschrift baten wir den Pädagogen um ein Gespräch. In den ersten Minuten saß er auf hohem Roß und behauptete, wir müßten uns irren. Als wir drohten, den Direktor einzuschalten und den Vorfall notfalls bis zur letzten Instanz durchzufechten, änderte er seine Taktik. Diesmal paßte er sich uns an und versprach hoch und heilig, so etwas werde sich nie wiederholen. Wir hatten nichts davon, wenn wir ihm weiteren Ärger bereiteten. In der Tat sanken die Noten seiner bisherigen Schützlinge beträchtlich. Ich schildere das nicht so ausführlich, weil ich den Vorgang etwa für einmalig hielte; in jeder Gesellschaft werden gegenseitig Gefälligkeitsleistungen erbracht. Mag diese Art von Vorteilsnahme noch so mies und unfair sein, die menschliche Natur ist zu anfällig, als daß man sie ausschließen könnte. Gefährlich jedoch wird sie in Zeiten einer Gewaltherrschaft; Kniefälle vor Reiche- p.36 ren und Bessergestellten scheinen mir trotz ihrer Abscheulichkeit harmloser als solche vor Goldfasanen und Parteifunktionären. Letztere wurden getan, um weiß Gott Wichtigeres zu erreichen als ein annehmbares Prädikat unter der Griechischarbeit, Anpassungsfähigkeit und Fügsamkeit den Regierenden gegenüber entschied damals nicht selten über Karriere oder Sturz, über Freiheit oder KZ, über Leben oder Tod. Leider besteht Grund zur Annahme, daß Kurt Sörensen, nachgiebig bereits in der Geheimhaltung griechischer Texte, sich auch den Nazis um gewisser Vorteile willen gefällig erwies. Was für erbärmliche Jahre, in denen Gesinnungslumperei eher gefragt war als Charakterstärke; in denen Naturen mit labiler Neigung ständig und.nahezu unausweichlich in Versuchung geführt wurden!

Nun gerieten unsere Lehrer natürlich nicht täglich in Gewissenskollisionen, die Scheußlichkeiten in den Vernichtungslagern wie Auschwitz wurden sorgfältig verschwiegen. Die meisten lebten in den Tag hinein, solange man sie ungeschoren ließ; die Mittelmäßigen ließ man ungeschoren, solange sie nicht gegen den Stachel löckten. Unser zweiter Altsprachler, Richard Odermann, zum Beispiel war dem Leben viel zu zugetan, als daß er sich über den Wechsel der Staatsform allzu viele Gedanken gemacht hätte. Bonvivant, Charmeur, schlug er uns in den unteren Klassen mit spannenden Reiseberichten in seinen Bann. Sooft wir Übriggebliebenen uns heute treffen, irgendwann bringt mit Sicherheit jemand jene Schiffsreise nach Griechenland aufs Tapet, während der unser Lateinlehrer Gelegenheit (er sagte: Gelechenheit) hatte, mit der Gattin des ungarischen Ministerpräsidenten (er sagte: Ministerprässidenten) zu tanzen. In den Sekunda- und Primajahren drängten wir, schon abgefeimter, ihn von uns auf dieses sein Lieblingsthema, um den Lateinunterricht kurzweiliger zu gestalten; er fiel fast regelmäßig darauf herein.

Karl Heberle, Neuphilologe, ein gefühlswarmer, feinsinniger Schwabe, liebte den Wald und die Beschaulichkeit; er fiel dadurch auf, daß er nicht auffiel. Heimlich verfaßte er Gedichte und Balladen.

Der Mathematiklehrer, Christian Evenschor, erregte Neid, weil er sehr früh mit einem Mercedes vorfuhr; mag er ein passabler Mathematiker gewesen sein, ein Erzieher war er nicht. Darum wäre es in jenen Jahren gerade gegangen.

p.37Heinrich Haneke, unser Biologie- und Chemielehrer, Westfale, erwarb als Volksschullehrer die Befähigung zum höheren Lehramt und tat sich unter den altgedienten Philologen immer ein bißchen schwer. Wir spotteten, wenn er im Chemieunterricht für fünf Pfennige Sauerstoff erzeugte und dabei für zwanzig Mark Glas und Apparaturen zerschlug. Lange überwand er nicht, daß ihm das einzige Kind, Hildegund, im zarten Alter wegstarb. Tag für Tag wanderte er auf den Friedhof. Nach seinem eigenen Tod habe ich das Grab fünfundzwanzig Jahre besucht; jetzt ist das Grab längst eingeebnet und der Grabstein mit seinem Namen verschwunden. Sic transit gloria mundi.

Ich sagte und bleibe dabei, keiner unserer Pauker hat seine Seele verkauft. Aber kaum einer hat sich hervorgewagt und ist für seinen Standpunkt auf die Barrikaden gegangen. Ich meine, sie haben sich zu sehr angepaßt, sicher auch in der Hoffnung, Schlimmeres damit zu verhüten. Aber bestand nicht gerade darin das Verhängnis, daß dieser Versuch mißlingen mußte?