Josef Eschbach:

Nicht allein wider den Strom

Zwölf besondere Jahre im Leben eines unbesonderen Menschen

Autobiografisches Manuskript von Josef Eschbach

Transkribiert, annotiert und herausgegeben von Haro von Laufenberg, 2018

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2. Prima Jahre

p.13 So gerne ich mir viele Gedanken Werner Bergengruens zu eigen mache, in einem Punkte kann ich ihm überhaupt nicht folgen. In seinen Aufzeichnungen "Dichtergehäuse" hält er es zwar für ein Merkmal des seßhaften, des eigentlichen und richtigen Zustandes, daß der Mensch die Gräber seiner Angehörigen aufsucht. Aber dann schreibt er, solche Gräber besitze er nicht, und er wünscht, für mich unbegreiflich, Gott möge ihm diesen "verfluchten" Zustand erhalten.

Ich habe nämlich, im Gegensatz zu ihm, diese Gräber, und ich danke dem lieben Gott dafür. Auch an diesem trübseligen Wintertag stehe ich auf dem Friedhof, während milchige Nebel durch die Sträucher und das kahle Astwerk der zurechtgestutzten Bäume schleichen, und bete am Grab meines Vaters. Ich fühle mich trotz der würgenden Schleier oder gerade wegen der unentrinnbaren Bedrückung herausgenommen aus der Welt der Lebendigen und den Toten auf eine merkwürdige Weise verbunden. Mein Vater ruht hier seit 1956; die Zeit wird in mir wach, in der er lebte und es niemanden gab, der mich stärker prägte.

Aber sooft ich diesen Friedhof besuche, bete ich nicht nur an diesem Grab. Ich brauche bloß etwa sechzig Schritte zurückzulegen, um am Grab des Mannes zu stehen, der neben meinem Vater und dem Jesuiten Ludwig Esch den stärksten Einfluß auf mich ausübte. Ich spreche von meinem Lehrer Dr. Wilhelm Holtschmidt. Ihm verdanke ich soviel, daß ich das Wort "Unterricht" nicht denken kann, ohne daß er mir einfällt.

Wirklich bewußt allerdings wird mir die Besonderheit seines Unterrichtens gleichzeitig mit den Erinnerungen an die Tage des unheilvollen Jahres 1933, als der Diktator an die Macht gelangt war. Ich habe im vorangegangenen Kapitel berichtet, wie ich den 30. Januar erlebte. Ich erfuhr den Wechsel im Grunde wie ein etwas altkluges Kind, das man zwar mit allerlei Dingen vollgestopft hatte, das jedoch einfach noch nicht reif genug war,um die Tragweite der p.14 eingetretenen Veränderung zu erfassen. Zu unbekümmert, zu selbstverständlich hatten wir Jugendlichen hingenommen, was die Republik uns trotz unübersehbarer Schwächen bot, vor allem, was unsere Freiheit betraf. Vielleicht hatte das Erschrecken der Älteren uns geängstigt und hellhörig werden lassen; jedenfalls spürten wir mit untrüglichem Instinkt, daß man in der neuen Ära aufmerksamer zuhören mußte, wollte man alle Feinheiten begreifen. Es wird wohl in allen Diktaturen sein, daß mehr verschlüsselt wird als offen ausgesprochen, weil die Machthaber die Wahrheit nicht dulden.

In unserer Schule war Dr. Holtschmidt bekannt für seine Anmerkungen, darauf angelegt nachbedacht zu werden. Das war natürlich schon lange vor 1933 so. Seine Kommentare, häufig spitz, nie verletzend, oft voll hintergründigen Humors, sparten keinen Bereich aus. So hatte er einmal einem Abiturienten, der von ihm den Tag der mündlichen Reifeprüfung erfahren wollte und, als ihm der Wunsch abgeschlagen werden mußte, um die "Angabe einer Unbekannten" bat, geantwortet, er könne doch nicht wissen, welches hübsche. junge Mädchen er verehre. Ich hatte seine Aphorismen bisher kaum registriert, wahrscheinlich aus jugendlicher Unbedarftheit. Inzwischen, nach der Machtübernahme, war es selbst bei uns schon eine Art Sport geworden,hinter jeder noch so primitiven Meinungsäußerung Hintergründiges und Doppelbödiges zu vermuten.

Aber wir warteten in den ersten Monaten vergeblich auf politische Stellungnahmen. Der Lehrer hatte nicht etwa die Fähigkeit verloren, Randglossen zu formulieren; in unpolitischen Situationen bewies er seine Qualitäten nach wie vor. Im Grunde fühlten wir uns ein wenig enttäuscht. Hatten wir ihn falsch eingeschätzt? Heute weiß ich, daß er nicht aus Feigheit schwieg; es war auch nicht Taktik oder Vorsicht. Er wollte sich erst äußern, wenn er mit sich selber völlig im reinen war.

Er war es an dem Morgen, als die neuen Herren vor Öffentliche Gebäude ihre Posten stellten, um Juden den Zutritt zu wehren. Es schmerzt mich noch in diesem Augenblick geradezu körperlich, wenn ich mich an diese erste Kundgebung ihrer Willkür erinnere. Zum ersten Male erlebten wir unsere Ohnmacht. Zum ersten Male wurde ein Teil des Volkes von dem anderen abgesondert. Zum er- p.15 sten Male wurde eine Minderheit amtlich diskriminiert. Zum ersten Male wurde Freiheit mit Füßen getreten. Dazu durfte im Grunde kein Verantwortlicher schweigen.

Studienrat Holtschmidt betrat ohne Gruß die Klasse und ging, ganz gegen seine Gewohnheit, ohne ein Wort ans Pult. Seine Gesichtszüge wirkten wie versteint. "Sie sollten sich wundern", sagte er abgehackt, "daß man mich in die Schule hineingelassen hat. Ich habe nämlich keine arische Großmutter."

So drückte man sich damals aus, wenn man zugeben mußte, daß sich unter den Vorfahren Juden befanden; für den "Ariernachweis" hatte man glaubhaft zu belegen, daß mindestens die Eltern und die vier Großeltern keine Juden waren. Nun entbehrte die Behauptung Dr. Holtschmidts natürlich jeder Grundlage; sein Stammbaum war auch nach den Vorschriften jener Zeit absolut nicht zu beanstanden. Aber er hatte das stärkste Mittel gewählt, um sich mit den Verfemten, öffentlich Gebrandmarkten, zu solidarisieren und das Unrecht anzuprangern. Wenn sich dieser erste Warnschuß später auch nur als ein Vorgeschmack erwies, verglichen mit dem, was die Juden nachher erwartete, half dennoch diese unmißverständliche Stellungnahme gleich zu Beginn außerordentlich, Klarheit zu schaffen; Leute wie Holtschmidt brauchten sich nicht vorzuwerfen, nicht den Anfängen gewehrt zu haben. Deutlicher konnte man seine Meinung nicht äußern. Wir honorierten das Bekenntnis stumm, aber mit Zustimmung und Verehrung. Das war unser alter Holtschmidt. Niemand achtete in diesem Augenblick auf die Gefahr, welcher er sich aussetzte. Wir waren in der Unterprima zu zwölf, und jeder glaubte sich des anderen sicher. Wie sich zwei Jahre später herausstellte, befand sich wirklich kein Spitzel unter uns. Schon ein unüberlegtes Wort draußen, eine unbedachte Bemerkung über den Unterricht hätte den Lehrer nicht nur sofort die Stelle, sondern mindestens auch die Freiheit gekostet.

In seinem "Wörterbuch der Philosophie" behauptet Fritz Mauthner, die Sünde, die allstündlich an unseren Kindern begangen werde, gehöre zum Wesen der Schule, und die Schulen seien Anstalten, in denen die Seele des Kindes systematisch gemordet würde. In Erinnerung an Dr. Holtschmidt muß ich feststellen, daß mir die Schule die Seele gerettet hat, die durch das herr- p.16 schende System leicht hätte gemordet werden können.

Dabei vollzog sich diese Rettung keineswegs spektakulär, vor den Augen der Öffentlichkeit. Ich denke, gerade, daß sie unauffällig vor sich ging, ohne jedwedes Gehabe und ohne Proklamation, dabei freilich stetig und zielstrebig, übte entscheidende und nachhaltige Wirkung auf uns junge Leute aus. Wenn sich allmählich eine Betrachtungsweise in uns festigte, die der öffentlichen und veröffentlichten Meinung diametral gegenüberstand, lag es an der Schule und an jenen Männern, die sie wie Dr. Holtschmidt für uns repräsentierten. Ich will schon hier anmerken, daß wir neben ihm ein paar andere Erzieher besaßen, die mehr oder weniger am gleichen Strang zogen; ich werde über sie und die übrigen im nachfolgenden Abschnitt berichten.

Inzwischen gediehen die Dinge weiter, und die Vergewaltigung des Staates und seiner Menschen lief wie ein präzise aufgezogenes Uhrwerk ab, für das man Stunde um Stunde vorausberechnet hat. Wir waren einfach zu arglos, um die Systematik dieser Entwicklung zu durchblicken, und die Tatsache, daß nicht nur die Deutschen, sondern auch ausländische Beobachter der Szene zunächst nicht begriffen, was von dem neuen Deutschland zu halten war, vermag unsere Unsicherheit wenn nicht zu entschuldigen, so doch zu erklären. Es lag an der ausgeklügelten Strategie der Faschisten, daß es zu Beginn ihrer Tätigkeit äußerst schwierig wurde, ein zutreffendes Bild zu gewinnen.

Seit der ersten Attacke au:f unsere jüdischen Mitbürger hatte Studienrat Holtschmidt sich nicht wieder direkt zu Vorkommnissen geäußert; wer indes Ohren hatte zu hören, spürte aus vielen Kommentaren, wie er die Machthaber einschätzte und ihre Tätigkeit beurteilte. Ein weiterer Anlaß, konkret Stellung zu beziehen, bot sich ihm am Sonntag nach dem 22. Juli 1933. An diesem Tag hatte Berlin mit der römischen Kurie ein Konkordat abgeschlossen, für das sich bereits die Weimarer Republik engagiert hatte, das jedoch nicht zustandegekommen war. Erstaunlich blieb, daß an diesem Vertragswerk neben Eugenio Pacelli, dem seinerzeitigen Nuntius in Deutschland und nachmaligem Papst Pius XII., der ehemalige Zentrumsführer Prälat Ludwig Kaas mitgewirkt hatte; noch im März des gleichen Jahres hatte er im p.8 Reichstag dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt, wiewohl ihm ein versprochener Brief des Diktators mit der Zusicherung bestimmter Zugeständnisse für die Kirche an diesem Morgen nicht und niemals zugestellt wurde; er hätte demzufolge gewarnt sein müssen.

An diesem Sonntag ging unser Religionslehrer, ein sicher ehrenwerter, aber politisch unbedarfter Theologe in seiner Predigt auf das Reichskonkordat ein und pries es als ein erlösendes und staatsmännisch überzeugendes Dokument, das beiden vertragschließenden Parteien, also Staat und Kirche, helfen und ein erträgliches Miteinander ermöglichen werde. Niemand durfte es dem Prediger verargen, daß er so urteilte, wenn der Vertreter des Papstes und der ehemalige Vorsitzende der Zentrumsfraktion diese Vereinbarung ausgehandelt hatten. Es erforderte schon eine gewisse Scharfsichtigkeit, die wahren Beweggründe des Diktators richtig zu analysieren. Es war symptomatisch für viele Kreise in Deutschland, daß sie die Bedrohung überhaupt nicht begriffen hatten; gierig haschten sie nach der nebensächlichsten Verlautbarung und nach jeder echten oder bloß kolportierten Äußerung eines der Herrschenden, um darzulegen, daß alles im Grunde gar nicht so schlimm sei.

Die Ausführungen seines Kollegen mußten Dr. Holtschmidt außerordentlich beschäftigt haben. Nach dem Schulgottesdienst wartete er draußen auf meinen Mitschüler Willi und mich. Willi spielte während der Messe auf dem Harmonium, während ich vorbetete und mich mit dem Blasebalg amüsierte. Hastig trat er auf uns zu und fragte geradeheraus, wie uns die Predigt gefallen habe. Es war sonst nicht seine Art, mit Schülern über Kollegen zu diskutieren; hinzu kam, daß ihn freundschaftliche Beziehungen mit dem Prediger verbanden. Wenn er nun von dieser Gewohnheit abwich, mußten ihn ernste Gründe zwingen.

Er wartete gar nicht auf unsere Antwort; er beantwortete die rhetorische Frage sofort selbst. Wir spürten ihm seine Erregung deutlich an, er fühlte sich zutiefst beunruhigt. Für ihn war es unverständlich, wie ein denkender Mensch das Reichskonkordat positiv beurteilen konnte. Die wirklichen Gründe, die dem Staatsvertrag zugrundelagen, erschienen ihm klar und unterschieden sich von den in der Predigt genannten fundamental.

p.18 Dem Diktator ging es nach seiner Ansicht überhaupt nicht um Frieden und Verständigung mit der katholischen Kirche. Das Konkordat sollte helfen, das Vertrauen des Auslandes zu gewinnen, auf dessen Stillhalten er in den ersten Monaten dringend angewiesen war, und das noch immer ausblieb. Ein Abkommen mit der Kurie würde auch die übrigen auf die Dauer geneigter machen. Rom kroch ihm hübsch auf den Leim. Die Entwicklung, die wachsende Entfremdung zwischen Staat und Kirche, immer schlimmere Gegnerschaft bestätigten Holtschmidts Befürchtungen.

Wir Jungen, Willi und ich, wir standen an diesem Sonntagmorgen allerdings ziemlich unbeholfen vor ihm. Wenngleich wir die richtigeren Argumente bei ihm vermuteten, gefiel uns der Optimismus der Predigt angesichts der Lage auch ganz gut. Ich jedenfalls benötigte noch Jahre, um die Richtigkeit von Holtschmidts Beurteilung zu erfassen. Dennoch empfanden wir an diesem Morgen Stolz, weil der Lehrer uns so ins Vertrauen zog; ihm widerstrebte einfach, junge Menschen in. einer so entscheidenden Frage falsch zu informieren. Wie er sich später mit dem Religionslehrer auseinandergesetzt hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Daß er jedoch mit ihm und mit dessen zwergenhaft kleinen, äußerst feinsinnigen Schwester, der er in inniger Seelenverwandtschaft zugetan war, ausgiebig darüber sprach, versteht sich am Rande.

Aufregend genug verlief das Jahr 1933 für uns. Die Ereignisse überstürzten sich, es fiel nicht leicht, sie angemessen zu beurteilen. Direkte Hanweise und gezielte Kommantare des Geschichtslehrers Holtschmidt blieben die Ausnahme, doch die Analyse historischer Zusammenhänge und absichtlich hergestellte Parallelen öffneten Einsicht und Herz und ermöglichten, auch im aktuellen Bereich auf dem laufenden zu bleiben. Unser Sachverstand schärfte sich, Vergleiche und Bezüge ergaben sich von selbst. So erinnere ich mich zum Beispiel noch heute daran, wie Dr. Holtschmidt den Warschauer Aufstand 18321 gegen die Russen schilderte. Es knisterte in der Klasse. Wir blickten uns wissend an. Spannende Geschichtsstunden lieferten Hintergrundinformation, zeitlos gültige Wahrheiten wurden uns deutlich.

Erst viel später begriffen wir, daß auch Hotschmidts Deutschunterricht zu einem guten Teil politischer und weltanschaulicher Unterricht war, der uns unmißverständlich formte. Wir lasen in der p.19 Unterprima Dichtungen zum Rahmenthema "Individuum und Gemeinschaft"; dazu gehörten neben Hebbels "Agnes Bernauer" und Kleists "Prinz von Homburg" das Stück "Schlageter" von Hanns Johst. Wir ahnten nicht im entferntesten, mit welchen Hintergedanken diese Auswahl getroffen worden war; Johst, Präsident der "Reichsschrifttumskammer", ein erbärmlicher Epigone und Opportunist, erfreute sich allerhöchsten Wohlwollens, weil er Stoffe behandelte, die gefielen. Albert Leo Schlageter, Widerstandskämpfer, 1923 während der Ruhrbesetzung von den Franzosen hingerichtet, von den Nazis zu einer Art Nationalheld hochstilisiert, bot genau das Gegenteil des erwünschten Anschauungsunterrichts. Holtschmidt genoß das Widersprüchliche der heiklen Situation.

Längst ist der kurze Weg zwischen den beiden Gräbern überwunden und die letzte Ruhestätte Dr.Holtschmidts erreicht. Anfang Juli 1934 zwang ihn ein Vorgang, auf indirekte Bezüge zu verzichten und Klartext zu reden. Am 30.Juni hatte sich der Diktator in einem Staatsstreich einer Reihe mißliebig gewordener alter Mitkämpfer entledigt und bei dieser Gelegenheit andere mitbeseitigt, die ihm aus irgendeinem Grunde unbequem geworden waren. Seine Rechtfertigungsversuche vor dem Reichstag wirkten fadenscheinig, und jeder spürte, daß er log.

Im ersten Unterricht nach dem sogenannten Röhmputsch hielt Holtschmidt vor zwölf Oberprimanern ein Plädoyer für den Rechtsstaat, wie man es sich eindringlicher und überzeugender nicht vorzustellen vermag. Wie ein Bußprediger des Mittelalters stand er vor uns, der kleine, feingliedrige Mann mit dem sonst etwas ironischen Gesicht; jetzt verhärteten die Züge sich; die Haut spannte sich, und die Backenknochen sprangen hervor. Nicht die gnadenlosen Hinrichtungen oder die Heimtücke, mit der sie durchgeführt wurden, empörten ihn am stärksten. Unnachsichtiger geißelte er die Einlassung des Mörders, in der fraglichen Nacht sei ihm keine Wahl geblieben; Exekutive, Legislative und Judikative wären überrannt gewesen und alle Fäden in seiner Hand zusammengelaufen. Holtschmidts Stimme schwoll an, als er erklärte: "Ein Staat, der die Gewaltenteilung ausschaltet, ist kein Rechtsstaat, sondern ein Unrechtsstaat. Ein Politiker, der sich solchen Vergehens schuldig macht und es nachträglich auch noch sanktioniert, ist kein Staatsmann, sondern ein Verbrecher." p.20 Das Wort "Unrechtsstaat", die Anschuldigung "Verbrecher" klangen buchstäblich nach und dröhnten in unseren Ohren. Wir waren plötzlich keine Kinder mehr, keine Schüler; wir fühlten uns wie Mitverschworene, die erkannten, was gespielt wurde.

Ich habe später viele Male über dieses Erlebnis nachgedacht. Wir alle bewunderten diesen Mann und seinen Mut. Er war erfahren genug, um zu wissen, daß seine eindeutige Stellungnahme sein Todesurteil bedeuten konnte. Das nahm er bewußt in Kauf. Er hätte sich zeit seines Lebens vor sich selber geschämt, wenn er uns, für die er sich verantwortlich glaubte, über seine Ansichten im unklaren gelassen hätte. Wir saßen nach seiner Erklärung zunächst wie beklommen und in gewisser Weise hilflos. Was sollte man dazu auch anmerken? Aber wir begriffen, daß hier keine Ausflüchte galten; hier ging es um letzte, grundlegende Fragen.

Wenige Wochen nach Röhms angeblichem Umsturzversuch, durch den der Kanzler in Wirklichkeit dessen Zugriff auf die Wehrmacht verhindern wollte, begannen die letzten großen Ferien unseres Schullebens. Danach, im Oktober, hatten wir Entscheidungen zu treffen für das Abitur. Von großer Bedeutung für mich wurde die Klausur in Deutsch. Daß ich mich für das literarische oder politische Thema entschied, stand für mich nach mehreren Jahren Deutschunterricht bei Dr. Holtschmidt fest; als die Themen bekanntgegeben wurden, wußte ich sofort, welchem ich mich zuwandte. Es lautete: "Demokratie und Führertum, Versuch einer Charakterisierung unserer heutigen Staatsform."

Aus meiner heutigen Sicht muß ich zugeben, daß ich bodenlos leichtfertig handelte. Die Aufgabe steckte voll Brisanz; aber damals glühte ich vor Eifer. Ich hatte mich gründlich vorbereitet und Möller-van den Brucks "Das Dritte Reich" studiert, Gründe und Gegengründe sorgfältig abgewogen. Die Niederschrift etwa Ende Januar 1935 verlief auch ohne Zwischenfall. Zehn bis vierzehn Tage vergingen.

Eines Morgens jedoch wurde ich in das Amtszimmer des Direktors bestellt. Sein Gesicht in diesem Augenblick vergesse ich mein ganzes Leben nicht. Er saß wie erstarrt hinter seinem Schreibtisch, der ganze Mensch schien eingefallen und ohne Leben. Obschon er bei niemandem beliebt war, konnten wir ihm ein gewisses Mitgefühl nicht versagen. Im Krieg hatte er ein Bein eingebüßt, vor kurzem p.21 war er aus politischen Gründen an unsere Schule strafversetzt worden. Seine Erstarrung verunsicherte mich; ich wartete, bis er das Wort an mich richtete. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn ich mit der Verweisung von der Schule oder mit der Zurückstellung von der mündlichen Prüfung bedroht worden wäre, wiewohl ich mich keiner Verfehlung erinnerte.

"Hören Sie", stieß er schließlich mühevoll heraus, um die richtigen Worte förmlich ringend. "Es handelt sich um Ihre Deutschklausur. Wissen Sie, daß das, was Sie geschrieben haben, nicht nur Ihren Vater, sondern auch den Deutschlehrer und mich die Stelle kosten kann? Was haben Sie sich eigentlich gedacht?" Er versuchte, die Wirkung seiner Mitteilung aus meinen Mienen abzulesen.

Ich erschrak. Einen derartigen Stellenwert hatte ich einem simplen Abituraufsatz nicht beigemessen. Aber durfte man in Deutschland seine wahre Meinung nicht mehr verraten?

Natürlich hatte mein Gesprächspartner von seinem Standpunkt aus recht. Er hatte für seine Gesinnung schon einmal Lehrgeld gezahlt, wahrscheinlich war man nur wegen seiner Kriegsverletzung noch einigermaßen glimpflich mit ihm umgegangen. Was sollte ihn veranlassen, meinetwegen noch einmal mit dem Feuer zu spielen? Er setzte auf meine Einsicht. "Wie konnten Sie bloß so unvorsichtig sein?" fragte er nach einer Weile wohlwollend. "Ich erkenne Ihre Leistung ja an. Nicht zu Unrecht wurde sie von Dr. Holtschmidt mit eins zensiert."

Jetzt verstand ich gar nichts mehr. Gegen eine eins war doch weiß Gott nichts einzuwenden.

Er kam meiner Erwiderung zuvor. "Das Prädikat ist zwar an sich nicht zu beanstanden", erklärte er, "doch es ist völlig unmöglich." Er wuchs in seinem Sessel auf, zog sich schwerfällig hoch und stelzte wegen seines Holzbeins ans Fenster. Lange starrte er hinaus und klopfte mit seinen Rheumafingern gegen die Scheibe. "Passen Sie auf", sagte er und drehte sich um, "jede Klausur mit eins muß ans Provinzialschulkollegium nach Koblenz geschickt werden. Wenn Ihre Arbeit dort vorgelegt wird, bedeutet das nicht nur das Ende für die drei Erwachsenen, auch Sie selber haben mit erheblichen Konsequenzen zu rechnen." Er humpelte an seinen Platz zurück. "Ich weiß einen Ausweg", meinte er aufgeräumt, "der uns vielleicht aus der Klemme hilft. Ich senke die Note des Kollegen p.22 Holtschmidt einfach auf zwei. Er widerspricht zwar, würde sich jedoch fügen, wenn Sie mit dieser Regelung einverstanden wären." Er wartete gespannt auf meine Antwort. "Ich hoffe, Sie verstehen, daß wir in einer Zwickmühle stecken. Ich rate übrigens, den Vorgang nicht an die große Glocke zu hängen; es wirbelt nur unnötig Staub auf. Am besten bleibt es unter uns."

Ich möchte zu gern erfahren, wie junge Menschen von heute mein damaliges Verhalten beurteilen. Ich hätte auf der eins bestehen können. Was hätte ich indes am Ende damit bewirkt? Vermutlich gab eine rechnerische Überlegung bei mir seinerzeit den Ausschlag. Nach meinen Vornoten stand eine eins auf dem Abiturzeugnis so oder so nicht zur Debatte. Also stimmte ich dem Vorschlag des Direktors zu. Ich habe mich keinem anvertraut, nicht einmal meinem Vater und keinem der Mitschüler. Selbst mit dem Deutschlehrer sprach ich nicht darüber, und er ging mir aus dem Wege.

Heute scheint mir, unser Verhalten ist typisch für viele Deutschen in dieser Zeit. Wir haben schlicht versagt. Gerade weil Mannesmut an allen Ecken und Enden fehlte, wurden die Regierenden immer unverschämter. Der ersten Kapitulation folgte zwangsläufig nächste. Ich vermag nicht zu beurteilen, wie Dr. Holtschmidt die Bevormundung aufgenommen hat. Freilich hätte auch er von vornherein auf seinem Prädikat beharren können.

Die Notenmanipulation zahlte sich aus, ich hatte mir mit der Zustimmung Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt, zumindest bis zum Tag der mündlichen Prüfung, die am 8.März 1935 stattfand. Warum ich dann fast nicht daran teilgenommen hätte, erzähle ich in einem anderen Kapitel. Etwa zwei Wochen danach feierten wir unseren Abschiedskommers im Hotel Wantzen. Just drei Stunden vor Beginn wurde bekannt, daß der Diktator die allgemeine Wehrpflicht angeordnet hatte; die meisten Konabiturienten mußten daraufhin ihre Berufspläne umstellen. Irgendwann während der Feier trank ich, wie das Sitte war, auch meinem Deutsch- und Geschichtslehrer zu. Er erwiderte meinen Trinkspruch etwas gequält. Ich bildete mir ein, daß sich sein Mißbehagen auf meinen Aufsatz bezog.

Ich stehe inzwischen schon eine Weile vor dem Grab, dessen Stein die Aufschrift trägt "Dr. Wilhelm Holtschmidt". Nur wenige Erlebnisse habe ich wachgerufen, die den Toten und mich betreffen. Ich verließ vierzehn Tage nach dem Kommers meine Vaterstadt und kehr- p.23 te erst zurück, als der Krieg und mit ihm das Dritte Reich zu Ende gegangen waren. Dr. Holtschmidt lebte noch. Wir haben mehrere Male miteinander gesprochen, aber nie über das Vergangene. Die Vorgänge in Zusammenhang mit meinem Deutschaufsatz klammerten wir bewußt aus; ich denke, wir schämten uns beide irgendwie.

Nun ruht er seit Jahren auf diesem Friedhof, nicht weit von meinem Vater. Er bemühte sich, uns Jungen die Augen zu öffnen und vor dem Verhängnis zu warnen, das er über uns hereinbrechen sah. Es ist trotzdem über uns hereingebrochen, und niemand vermochte es abzuwehren.

Dennoch spüre ich echte, tiefe Dankbarkeit. Ich danke auch dafür, daß ich an diesen Gräbern stehen darf. Es war schon eine außergewöhnliche Zeit, jene "prima" Jahre zwischen 1933 und 1935. Daß ich sie, trotz mancherlei Versagens, bestanden habe, ist nicht zuletzt das Verdienst Wilhelm Holtschmidts.