Nicht allein wider den Strom
Zwölf besondere Jahre im Leben eines unbesonderen Menschen
Autobiografisches Manuskript von Josef Eschbach
Transkribiert, annotiert und herausgegeben von Haro von Laufenberg, 2018
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1. Mein Vater und der Rattenfänger
p.1 Am Karnevalssamstag lockt mich der fast wolkenlose Himmel erneut hinaus, aber draußen spürt man den Februar deutlich. Eisiger Wind fegt um die Ecken, seine Schärfe treibt Tränen in die Augen, ich zupfe den Schal unwillkürlich fester. Zu Beginn des Monats hat es sieben oder acht Tage Frühling gegeben; anschließend jedoch besorgten ein paar zugehangene, naßkalte Wintertage eine arge Desillusionierung. Inzwischen hat sich die Sonne wieder durchgesetzt, doch die Kälte ist geblieben.
Ein paar Kinder huschen verkleidet an mir vorüber und nicken mir freundlich zu. Ich erwidere ihren Gruß widerwillig. Schon vor fünfzig Jahren mochte ich den Rummel dieser Tage nicht. Ich blieb lieber für mich und zog mich in die Stille der Wälder der Umgebung zurück. Kaum ein Gebiet eignete sich so gut dafür wie der Bovenberger Wald, für mich schon deswegen, weil er zu Fuß leicht erreichbar war.
Was soll mich hindern, diesen Wald auch heute aufzusuchen? Ich überlege nicht lange und mache mich auf den Weg.
Während ich eine halbe Stunde später die Umrisse des Gutes Bovenberg, die Unterführung der Eisenbahn verlassend, schon silhouettenhaft erkenne, erinnere ich mich fröhlich bewegt, daß dieses Geviert in meinen Jungenjahren so etwas wie mein "Hauswald" war. Es klingt gewiß anmaßend, aber ich betrachtete es wirklich wie eine Art Eigentum. Wie viele Stunden der Sehnsucht, der Träume, der Traurigkeit, des Gefühls völliger Entrücktheit, aber auch der Überzeugung meiner Berufung, der Gewißheit meines Besitzerrechts habe ich hier in jenen Jahren erlebt! Das Gut selbst, nach dem das Gebiet seinen Namen hat und das ich soeben erreiche, hat sich nach meiner Einschätzung in all der Zeit nicht verändert. Ein Pächter versucht, dem Boden abzuringen, was er hergibt; noch immer ist eine winzige Baumschule, gepflegt und fachmännisch behandelt, dem Gehöft vorgelagert. An einer aufgegebenen Sandgrube vorbei führt ein schma- p.2 ler, vernachlässigter Pfad südwärts. Rechts begrenzt ihn ein Streifen Nadelwald, links bestellte Felder. An diesem Vormittag pfeift der Ostwind gehörig über den offenen Acker und dringt durch sämtliche Poren. Nach ungefähr achthundert Meter biegt der Weg im rechten Winkel ab und wird nun auf beiden Seiten von Bäumen umrandet. Diese Gabelung haftet am stärksten in meiner Erinnerung, wenn ich an die Besuche im Bovenberger Wald denke, die ich allein unternahm. Denn nicht weit von hier muß die Stelle sein, auf der vor vielen Jahren "mein" Hochsitz stand. Auf ihm hockte ich gerne, wenn ich mich gerade wieder einmal mit der Welt in Unfrieden wähnte.
Das war besonders häufig zur Karnevalszeit der Fall. Einmal, am Rosenmontag, war ich wieder vor dem Trubel in der Stadt geflüchtet und saß auf diesem Hochstand. Ich hatte ihn irgendwann entdeckt und fand ihn für meine Zwecke äußerst geeignet. Ich fühlte mich sehr erhaben und dachte über die Vergänglichkeit alles Irdischen nach, zutiefst davon überzeugt, daß ich den rechten Weg ging und nicht der Verderbtheit der Sünde anheimfiel wie meine Schulkameraden, die sich dem närrischen Treiben willenlos ergaben. Ich wußte, daß sie sich um diese Zeit trafen, in höchst amüsanter Verkleidung Arm in Arm durch die Straßen zogen, von Bude zu Bude, von Gruppe zu Gruppe, von Kneipe zu Kneipe, vor Lebensfreude überschäumend, das ungetrübte Gefühl reiner Daseinshingabe in vollen Zügen genießend. Ich mochte eine Stunde gesessen haben, dem Weltschmerz hingegeben, als der Wind drehte und ein paar Melodiefetzen ausgelassenster Karnevalsmusik herüberwehte. Meine Bewußtseinslage änderte sich abrupt. Ich erblickte die fröhlichen Burschen deutlich vor mir. Die kurze Berührung mit der Welt draußen brachte eine komplette Symphonie von Verzweiflung und Sehnsüchten in mir zum Klingen; ich kam mir in diesem Augenblick der selbstgewählten Einsamkeit so unendlich allein und ausgestoßen vor, daß ich am liebsten laut geweint hätte. Ich gab mich jedoch glücklicherweise nicht meiner Verzweiflung hin, sondern tat spontan das einzig Richtige. Ich verließ meinen Thron, kletterte behende hinab und rannte den Weg zur Stadt zurück in einem Tempo, daß ich beinahe über die eigenen Beine gestolpert wäre. Ich entdeckte die Clique bald und vergaß den Jammer meines p.3 Jungenelends völlig. Es wurde ein schöner Abend, und nie hat mir ein Rollmops mit einem vertrockneten Brötchen besser gemundet als der, den wir zum Abschluß unseres Umzuges gemeinsam verspeisten.
Ein solcher Stimmungsumschwung war typisch für mich zu jener Zeit, und ich habe mich in späteren Jahren gefragt, warum ich mich damals so häufig absonderte, um kurz darauf reumütig in den Schoß der Gleichartigen zurückzukehren. War ich ein Eigenbrötler, oder ist es eine Veranlagung, die jedem in diesem Alter eignet? Aus der Stimmung der Einsamkeit heraus entstanden meine ersten Gedichte, und in derartigen Augenblicken bestand für mich nicht der geringste Zweifel, daß ich ein berühmter Dichter würde. War es das in mir, daß ich mich herausgehoben glaubte? "Ist der, der Gedichte schreibt, nun ein Dichter?" fragt Rainer Maria Rilke, und er antwortet: "Vielleicht ist er ein Dichter. Aber vielleicht ist er auch nur schön jung." Vermutlich war ich nur schön jung, denn je älter ich wurde, um so seltener wurden diese Anwandlungen.
Von der Weggabelung aus schreite ich jetzt den Pfad langsam hoch. Die Fichten rechts scheinen mir unverändert und die Grashügel davor, auf denen ich auch oft lagerte. Übrigens, damit mein Hauswald und ich nicht in den unverdienten Glanz geraten, Schauplatz ausschließlich erhabener Gedankengänge gewesen zu sein, muß ich gestehen, daß ich nicht immer allein den Bovenberger Wald aufgesucht habe. Häufig hat mich Elisabeth, meine zweite Liebe, begleitet. Wenn sie neben mir kauerte und ich ihre Hände liebkoste, waren alle Dichterträume vergessen, und meine Freunde konnten mir gestohlen bleiben.
Das Stück links vom Pfad scheint vom Krieg in Mitleidenschaft gezogen zu sein. Der Boden ist aufgewühlt, einige Stellen sind inzwischen neu aufgeforstet. Irgendwo in diesem Geviert stand mein Hochstand.
Der Weg steigt sanft an; aber es kommt nicht nur von der Anstrengung des Steigens, daß mein Herz klopft. Bald muß der Pfad den Verbindungsweg zwischen Nothberg und Gut Holzheim erreichen.
Ich stehe lange an dieser Kreuzung. Die Bäume ringsum schützen vor dem böigen Februarwind. Wie oft habe ich an dieser Stelle p.4 mit meinem Vater1 gestanden! An ihn muß ich am ehesten denken, wenn mir der Bovenberger Wald einfällt. Er hat mich nicht nur zum ersten Male hingeführt, er hat ihn mir auch im eigentlichen Sinne des Wortes aufgeschlossen. Ohne ihn hätte ich niemals dieses Verhältnis zu ihm gefunden. Ohne ihn hätte ich sowieso viele Träume meiner Jugend nicht geträumt. Ich erinnere mich deutlich, von dem Punkt aus, an dem ich nun stehe, fiel schon damals der Blick ungehindert auf den Helm der Nothberger Wallfahrtskirche. Heute reflektiert sein Silberbelag gleißend in der Sonne.
Endlich löse ich mich und wandere weiter, links abbiegend Richtung Gut Holzheim. Ich freue mich auf den Blick vom Waldrand hinunter auf die Talsenke in der zwischen Heistern und dem Wald der mächtige Quaderbau liegt. Eine schäbige Holzbank steht heute dort, klobig, als wäre sie von Kinderhänden gezimmert, und lädt zum Sitzen ein. Wegen des Wetters bleibe ich lieber stehen. Kann man auch stehend träumen?
Ich denke nämlich, ich hörte Stimmen. Die Stimme meines Vaters. Dazwischen die Worte eines Knaben; meine eigenen. Wir beide steigen aus der Talsenke herauf. Wir sind damals Woche um Woche zu diesem Gut gepilgert und haben Butter und ein paar Eier geholt, um wenige Pfennige billiger, als wir im Geschäft bezahlt hätten. Irgendwann hatte mein Vater den Pächter angesprochen und die Verbilligung vereinbart. Ich war damals etwa zwölf Jahre alt, mein Vater runde vierzig. Diese Gänge gehören zu meinen schönsten Erinnerungen. Ich durfte den Vater alles fragen. Er wußte auf alles eine Antwort. Die Antwort galt, galt für die Ewigkeit.
Es mag heute unvorstellbar sein, aber auf diesen Wanderungen hat sich mein Weltbild geformt. Vielleicht ist es eine Ausnahme, daß ein einzelner so wichtig wird in einem Leben,jedenfalls für die ersten fünfzehn Jahre; Aber bei mir ist es so gewesen. So einseitig mein Vater mich auch informiert hat, ich brauchte an den Grundzügen bis heute nichts zu ändern. Ich würde es einem jungen Menschen von heute fast übereinstimmend so sagen. Selbstverständlich ist es Zufall, daß wir einen Großteil dieser Unterhaltungen auf dem Weg über Nothberg nach Gut Holzheim und zurück führten; es hätte überall sein können auf der Welt. p.5 Da sie jedoch einmal auf dieser Strecke stattfanden, kann ich, wenn ich an meinen Vater und seine Erziehung denke, auch den Bovenberger Wald nicht vergessen, und sicher rührt meine Vorliebe für ihn daher. Wenn ich in den nachfolgenden Jahren häufig allein, ohne meinen Vater, hierherkam, irgendwie begleitete er mich immer.
Nun darf man sich meinen Vater nicht als einen ungewöhnlichen Menschen vorstellen, er wurde sogar, fürchte ich, insgesamt mehr verurteilt als geliebt. Tatsächlich wirkte er in seiner gradlinigen, mitunter unnachgiebigen Art für manche abstoßend; meine Mutter behauptete einmal, für ihn gäbe es bloß schwarz oder weiß. Diese Hartnäckigkeit hat sich mit zunehmendem Alter verstärkt, aber vielleicht war sie nur eine Art Vorbote seiner späteren schweren Nervenerkrankung. In den Jahren, in denen er zu meinem Vorbild wurde, spürte ich nichts von Intoleranz. Ich bewunderte im Gegenteil, wie gut es ihm gelang, unterschiedliche Standpunkte, um die es mir in meiner nie völlig gestillten Knabenneugier ging, von ihrer gegenläufigen Argumentation her zu beleuchten und einsichtig zu machen. Überhaupt vermochte er so anschaulich zu schildern, daß ich mich mehr als einmal als Augenzeuge begriff.
Er zählte bestimmt nicht zu den Überfliegern, wiewohl er einen gewissen Stolz auf seine Karriere durchaus nicht leugnete. Er ließ gerne durchblicken, wie schwer es ihm gefallen war, als elftes von zwölf Kindern auf einer erbärmlichen Bauernklitsche in der Nähe des Siebengebirges und trotz des Besuches einer "Zwergschule" in die mittlere Beamtenlaufbahn vorzustoßen. Er leitete in den Jahren, von denen ich berichte, das Steueramt meiner Vaterstadt. Verständlicherweise trachtete er wie alle Eltern danach, daß seine Kinder einmal mehr erreichten als er.
Es stand übrigens für mich außer Zweifel, daß mir meine Neigung, Erlebtes und Gedachtes unverzüglich und, wie einige Lehrer fanden, nicht ungeschickt zu Papier zu bringen, über ihn zugeflossen war. Meine Mutter erzählte in unbeschwerten Stunden, daß er ihr in den ersten Jahren ihrer Bekanntschaft eigene Gedichte vorgetragen hatte; ich wußte um ein Heft im Quartformat, das er wie einen kostbaren Schatz hütete und vor jedermann verbarg, p.6 in das er in seiner gestochen schönen Handschrift eine selbstverfaßte Erzählung geschrieben hatte. Auch verfügte er über einen ausgedehnten Zitatenschatz; zusätzlich hatte er zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit eine meist deftige Redensart bereit, wenngleich deren bäuerische Direktheit zarte Gemüter, wie beispielsweise das unserer Tante Tro, fast regelmäßig zum Widerspruch und zur unmißverständlichen Bekanntgabe ihrer Entrüstung veranlaßte. So bevorzugte er den Satz vom Teufel, der immer auf einen großen Haufen sch...e. Er wollte damit den Tatbestand geißeln, daß Leute, die schon von Hause aus alles in Hülle und Fülle besaßen, immer noch dazu gewannen, während die Armen ständig ärmer wurden.
Es war auch bekannt, daß er seine Stellung als Leiter des Steueramtes ausnutzte, um Gutes zu tun; eine merkwürdige Komplizenschaft bestand deswegen zwischen ihm und Schwester Etwalda,der Oberin des Waisenhauses. Sie rührte daher, daß keine Kirmes verging, an der er nicht für die Kinder des Heimes eine Menge von Freikarten besorgte, die ihm die Inhaber der Karussells und der Vergnügungsbuden überließen, wenn sie bei ihm um Steuererleichterung nachsuchten. Doch er war um keinen Preis zu bewegen, auch nur eine einzige Karte für seine leiblichen Kinder abzuzweigen. Dieser seiner Zuneigung zu Waisenkindern verdanke ich übrigens meine erste, nie verkündete und daher auch nie erwiderte erste Liebe. Mein Vater hatte arrangiert, daß eine Schauspieltruppe, die auf dem Kirmesplatz gastierte, an einem Nachmittag auch im Kinderheim St. Josef auftrat. Zu dieser Vorstellung durfte auch ich erscheinen. Für die Hauptdarstellerin, ein in meiner knabenhaften Vorstellungswelt unvergleichlich schönes und zerbrechliches Geschöpf namens Isa Sax,empfand ich nicht nur an jenem Nachmittag, sondern noch Jahre später eine derart große Sympathie, daß im wegen meiner platonischen Treue zu ihr die eine oder andere konkrete Verbindung ausschlug. Ich habe sie nie wiedergesehen; aber die Tatsache, daß ich ihren Namen heute noch weiß, beweist, wie nachhaltig ich von ihr beeindruckt war.
Natürlich hätten diese Charakterzüge meines Vaters allein nicht eine so entscheidende Rolle in meinem Leben gespielt. Was ich noch heute, nach so vielen Jahren, nachdem sich die meisten p.7 seiner düsteren Prophezeiungen so schrecklich erfüllt haben, für ausschlaggebend halte, war seine klare, kompromißlose Einstellung. In grundsätzlichen Fragen kannte er keine Nachgiebigkeit und kein Schwanken. Das gilt vor allem für seine politische Haltung. Ich frage auch heute noch, warum die Verantwortlichen das Unheil, das 1933 über uns hereinbrach, nicht verhinderten. Man soll mir nicht antworten, es sei nicht vorauszusehen gewesen. Mein Vater hat es vorausgesehen! Er hat schon Jahre vorher, solange ich mich zu erinnern weiß, gewarnt. Und wenn er, ein Mann in so untergeordneter Position, die entsprechende Weitsicht hatte, wieso nicht die, die oben saßen und über viel weiterreichende Einblicke verfügten?
Deswegen wiederhole ich, daß er keinen großartigen Bildungsweg durchlaufen hat. An Landschulen, wie er sie besuchte, unterrichteten höchstens zwei Lehrer; der eine betreute die Unter- und der zweite die Oberstufe. Während sich der Pädagoge jeweils mit einer Altersgruppe seines Kurses abgab, übte sich der Rest in "Stillbeschäftigung". Nach Abschluß seiner Schulzeit absolvierte mein Vater eine Lehre auf dem Bürgermeisteramt seines Geburtsortes. 18jährig meldete er sich, wie vor dem ersten Weltkrieg üblich, bei der preußischen Armee in Bonn; ich glaube kaum, daß sich sein Horizont bei der Truppe wesentlich erweiterte. Anschließend erhielt er eine Stelle in meiner Vaterstadt, auf deren Rathaus er relativ rasch die einzelnen Stationen einer Beamtenlaufbahn hinter sich brachte, abgerechnet die vier Jahre Krieg, die er zunächst als Unteroffizier und später, nach seiner Verwundung, als Kanzleigehilfe bei einer Feldeinheit in Belgien erlebte.
Ich stehe noch immer an der Bank und denke zurück. Mir fällt ein Tag ein, an dem ich wieder einmal mit meinem Vater nach Holzheim ging. Ich hatte am Morgen auf dem Schulweg eine lange Schlange von Männern gesehen, die sich wie an jedem Werktag vor dem Arbeitsamt bildete, und zögernd vorrückte; die Leute holten ihre Arbeitslosenunterstützung ab. Man schrieb das Jahr 1930. Im Jahr zuvor hatte es in den USA in der Wallstreet einen Bankenzusammenbruch gegeben. Die Folgen zeigten sich in Europa später; indes immer, wenn sich die Amerikaner eine Erkältung zuzogen, war die Weimarer Republik auf dem besten Wege, eine p.8 tödliche Schwindsucht daraus zu entwickeln. "Die Arbeitslosen tun mir leid", sagte mein Vater. "Aber für viel gefährlicher halte ich, was danach kommt." Ich blickte ihn neugierig an. "Das liegt doch auf der Hand", erklärte er, "davon profitiert nur der Rattenfänger."
"Wieso?"
"Im Augenblick leben zwei Millionen ohne Hoffnung; gib acht, in wenigen Monaten zählen wir das Doppelte. Und es werden laufend mehr. Wem sollen sie Vertrauen schenken? Lies doch, was der Rattenfänger über die Novemberverbrecher erzählt und was er selber verspricht! Am Ende glauben sie ihm und wählen ihn."
Mein Vater, der immer ein Optimist gewesen war, wirkte in diesem Jahr zum ersten Male niedergeschlagen und ohne Mut. Er stammte aus dem Bauernproletariat, hatte zwar im Kriege seine Pflicht erfüllt, war jedoch als überzeugter Pazifist heimgekehrt. Er haßte alles Militärische. Den letzten Schock hatte es ihm versetzt, seit er persönlich in Berlin aus nächster Nähe mit ansehen mußte, wie ein Offizier auf den Wagen von Rosa Luxemburg2 sprang und sie kaltblütig erschoß.
Die ersten Jahre der Weimarer Koalition ermunterten ihn und stimmten ihn einigermaßen zuversichtlich, weil er hoffte, daß nun demokratische Gedanken auch in die Herzen der Deutschen einzogen. Die allmählichen Erfolge der Republik auf mancherlei Gebieten waren nicht zu übersehen.
Mit der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten 1925 begann die alte Voreingenommenheit erneut; in dem ehemaligen Generalfeldmarschall, einem Mitinitiator der Dolchstoßlüge, war für ihn der alte Geist, den er abgehalftert glaubte, wieder ans Ruder gekommen. Es war für ihn der Geist Potsdams und Bismarcks und Preußens, der fröhlich Auferstehung feierte. Er erzählte nicht von ungefähr am liebsten von seinem Großvater, der während des Bismarckischen Kulturkampfes inmitten von Scharen rheinischer Bauern mit Sensen, Mistgabeln und Dreßchflegeln vor den Kölner Dom gezogen war, um die Verhaftung des Kardinals zu vereiteln. Ein Stück dieser antipreußischen und antievangelischen Gesinnung wurde offenkundig, wenn der Kantor in der Kirche das Lied "Wir sind im wahren Christentum" intonierte; er schmetterte den Text mit einer derartigen Inbrunst mit, daß mir schon ein p.9 gelinder Schauder kam vor soviel christlicher Engstirnigkeit. Aber schließlich dachte man in diesen Kreisen wirklich so, und irgendwie paßte es sogar zu ihm.
Obschon die Entwicklung in den ersten Jahren nach der Wahl Hindenburgs die Skepsis meines Vaters Lügen zu strafen schien, hörte er nicht auf zu warnen. Er witterte überall den Pferdefuß. Inzwischen zählte man in der Republik dreißig Parteien, innerhalb eines Jahres verschlissen sich mehrere Regierungen. Schuld seien erstens die Sieger, behauptete er; sie lieferten mit ihren übertriebenen Forderungen von Versailles dem Rattenfänger die Argumente sozusagen frei Haus. Schuld seien weiterhin die Deutschnationalen mit ihrem Hugenberg, die zwar mit ihrer UFA gern an den Demokraten verdienten, im Herzen jedoch von vornherein gegen Weimar waren und nicht einsehen wollten, daß die Zeit der Monarchie in Deutschland passé war. Schuld seien die Regierenden, weil sie sich zwar gegenseitig eifrig ausschalteten, die Radikalen links und rechts indes weitgehend ungeschoren ließen. Schuld trügen letzten Endes alle, die immer noch nicht merkten, wie sehr der erste deutsche demokratische Staat bedroht war.
Nach unserer Unterhaltung 1930 überschlugen sich die Ereignisse. Die Zahl der Beschäftigungslosen stieg auf knapp sechs Millionen. 1932 mußte nach der Verfassung der Reichspräsident neu gewählt werden. Neben unwichtigen Kandidaten kam als ernsthafter Konkurrent für den Amtsinhaber nur der Rattenfänger in Betracht. Es gelang ihm tatsächlich, einen zweiten Wahlgang zu erzwingen.
Damit geriet mein Vater in einen Zwiespalt, den er nie völlig überwand. Es war ja auch eine Entwicklung ohne Beispiel. Die politische Mitte, 1919 noch im Besitz von 73 % der Stimmen, hatte die Mehrheit verloren. Um den Usurpator abzuwehren, den Kandidaten der äußersten Rechten, mußten die Mittelparteien den Sieger von Tannenberg unterstützen, im Grunde ein Signal für den Anfang vom Ende. Auch mein Vater sah keinen Ausweg. Dem Pazifisten aus Überzeugung blieb nichts übrig, als sich für den Generalfeldmarschall zu entscheiden, um der Alternative aus Braunau entgegenzuwirken. Es war schon ein Canossagang für ihn. Was es für ihn bedeutete, konnte ich nur ahnen.
p.10 Die Quittung bekamen die Demokraten im Grunde noch vor dem Gang zur Urne. Ich nahm während des Wahlkampfes an einer Kundgebung mit Heinrich Brüning in Aachen teil. Ich sehe sein schmales, durchgeistigtes Gesicht mit den randlosen Gläsern noch jetzt vor mir; ich bewunderte seinen völlig unpolemischen Einsatz. Was ich nicht wußte, war, daß er, noch für Hindenburg werbend und reisend, sein Entlassungsschreiben bereits in der Brieftasche trug. Der Präsident wünschte sich von ihm zu trennen, weil ihm die vom Reichskanzler vorgesehene Zwangsabgabe auf die großen Güter nicht paßte, denn sie hätte auch ihn persönlich und sein Gut Neudeck getroffen. "Wir stehen hundert Meter vor dem Ziel", sagte Brüning damals im Reichstag; er wußte, was er sagte, er drosch niemals leeres Stroh. Zwar erreichte Paul von Hindenburg in der Stichwahl eine Million Stimmen mehr als der Rattenfänger, aber nach Brünings Sturz blieb die Rechte unter sich, und die Machtübernahme war nur eine Frage der Zeit.
Dennoch traf sie mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ausgerechnet am Morgen des 30. Januar 1933 hatte ich mir ein Bild meines Idols Brüning aus einer Zeitschrift ausgeschnitten und auf ein Stück Karton geklebt. Als ich es vor dem Mittagessen meinem Vater zeigte, winkte er ab. "Das kannst du vergessen", verkündete er. "Seit ein paar Stunden ist der Rattenfänger Kanzler. Und daß ihr es sofort wißt", fügte er kleinlaut hinzu, "das bedeutet Krieg." Wir hielten trotz unserer eigenen Betroffenheit diese Voraussage für übertrieben und für die verständliche Äußerung einer maßlosen Enttäuschung. Mein Vater hegte nicht den leisesten Zweifel.
Um unzutreffenden Vorstellungen vorzubeugen: In den ersten Wochen des Jahres 1933 passierte in den Abläufen unseres persönlichen Lebens nichts Aufregendes. Man spürte freilich überall, daß etwas in der Luft lag. In der Schule sangen wir vor dem Beginn des Unterrichts nach dem Deutschlandlied das Horst-Wessel-Lied und reckten die Arme zum Deutschen Gruß in die Luft. Doch insgesamt überstürzten die neuen Herren nichts. Sie gingen systematisch ans Werk. Was sie an den Brennpunkten der Macht anstellten, erfuhren wir aus ihren einseitigen Berichten. Aber wir waren in ihren Praktiken noch zu unerfahren, um zwischen den Zeilen zu lesen.
p.11 Es wurde April, ehe sie begannen, meinem Vater gezielt zuzusetzen. Man erkundigte sich beinahe wohlwollend, wie er es verantworten könne, als Beamter immer noch nicht um Aufnahme in die Partei nachgesucht zu haben; ein diskreter Hinweis auf die Kinder und vor allem auf mich, der ja nach sic! dem Abitur die Hochschulreife brauche, sollte die Dringlichkeit der Anfrage entsprechend unterstreichen. Mein Vater weigerte sich zunächst. Aber wir merkten, wie unsicher er wurde. Nicht seinetwegen. Er allein hätte keine Sekunde gezögert. Doch waren seine Frau und wir Kinder, die für ein Studium in der Tat auf die Hochschulreife angewiesen waren, ständiger Anlaß für Überlegungen, nachzugeben. Ihm vergleichbare Kollegen waren längst "umgefallen" und der Partei scharenweise beigetreten; da vornehmlich der März Aufnahmemonat war, hatte der Volksmund für diese Opportunisten längst den Begriff "Märzlinge" geprägt.
Eines Nachts jedoch war es soweit. Es mag gegen drei oder vier Uhr am Morgen gewesen sein. Mein Vater stand vor meinem Bett. Klein. Gedemütigt. Ich erkannte es trotz meiner Schlaftrunkenheit sofort. Er sah wie zerstört aus. Erloschen. Am Ende. "Du möchtest bitte herunterkommen", lallte er. Ich habe ihn in seinem ganzen Leben nur dieses eine Mal betrunken gesehen. "Der Ortsgruppenleiter möchte dich sprechen."
Einer der drei neuen Machthaber in unserer Stadt, übrigens ein Vetter meiner Mutter, ehemals Schneidermeister, den wir weder beruflich noch persönlich je ernstgenommen hatten, erhob sich schwerfällig aus einem Sessel und klopfte mir jovial auf die Schulter. "Gratulation", erklärte er bramarbasierend, trotz seiner Trunkenheit erkennbar überzeugt von seiner neuen Würde, "dein Vater hat endlich eingesehen, was die Stunde geschlagen hat. Hoffentlich zeigst auch du Einsicht und machst in der Schule keine Obstruktion!"3
Ich kam mir selber wie vernichtet vor, als ich in mein Schlafzimmer zurückkehrte. Auf diese Weise wurde man 1933 Parteigenosse.
Das liegt nun ein halbes Jahrhundert zurück. Das Holzheimer Tal hat sich mittlerweile mit Nebel gefüllt; die Umrisse des Gehöftes sind nur noch schemenhaft zu sehen. Ich drehe mich um und schreite den Weg nachdenklich zurück.
p.12 Jene Nacht im Mai werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen. Sie hat meinem Vater das Rückgrat gebrochen. Er hat niemals, wieder das alte Verhältnis zu mir gefunden. Und ich muß zugeben, ich habe auch wenig dafür getan. Wir haben zwar nie über diese nächtliche Selbstvernichtung gesprochen. Aber sie stand wie eine unüberwindliche Mauer zwischen uns. Er schämte sich. Mehr, er begriff nicht, warum er sich so hatte erniedrigen lassen. Warum hatte er eigentlich kapituliert? Warum hatte er nicht seine wahre Meinung gesagt und die Stirn geboten? War er ein Feigling? Ein Schwächling? Er hatte doch nur geglaubt, um unseretwillen sich selber preisgeben zu müssen!
Allerdings, was hat er damit erreicht? Gewiß, kurzfristig ließ man uns in Ruhe. Aber ist uns die Zerstörung des Elternhauses erspart geblieben? Die Teilung des Vaterlandes?
Auf dem Weg durch die Straßen der Stadt denke ich, daß es dieselben Straßen sind, durch die vor einem halben Jahrhundert mein Vater ging. Wie ich heute sicher weiß, hat er die Demütigung, die Selbstentäußerung in jener Nacht niemals überwunden. Er, auf dessen Unbeugsamkeit wir alle so stolz gewesen waren, hatte sich knicken lassen wie ein Baum im Sturm. Er blieb für den Rest seines Lebens ein gebrochener Mann, und seine nachmalige Krankheit geht zumindest zu einem Teil auf das Konto dieser Tage. Sicher war er kein strahlender Held; aber genau so sicher überstiegen die Anfechtungen, denen sich die Menschen damals ausgeliefert sahen, jedes herkömmliche Maß. Obgleich er das Tausendjährige Reich und den Rattenfänger selber überlebt hat, ist er nicht mit ihnen fertig geworden. Jetzt ist er lange tot.
Die Kinder in meiner Nähe singen Karnevalslieder und umringen mich; ich löse mich etwas widerwillig von ihnen. Mein Vater geht mir nicht aus dem Kopf. Ich empfinde trotz seines Versagens etwas wie Zärtlichkeit für ihn und Ehrfurcht. Es fällt heute leicht, den Stab zu brechen. In jenen Jahren war es ein wenig komplizierter.